FAZ, 2.20.2024 - Der gebürtige Regensburger Kenan Yildiz erinnert bei Juventus viele an die Klubikone Alessandro Del Piero. Führt er den Klub zu alter Größe?

Wie soll man ihn nun nennen, Tizian oder gar Michelangelo? Gianni Agnelli, der Turiner Großindustrielle, ist vor über 20 Jahren verstorben und kann den Ballkünstlern von Juventus Turin keinen Spitznamen mehr geben. Der große Roberto Baggio war für den Juventus-Ehrenpräsidenten schlicht "Raffael". Alessandro Del Piero wurde vom legendären "avvocato" "Pinturicchio" getauft. Solche Vergleiche sind für den jungen Kenan Yildiz ziemlich viel Gewicht auf den erst 19 Jahre alten Schultern. Aber wenn es eine große Vergangenheit gab, die von einer grauen Gegenwart abgelöst wird, und dann ein wenig Hoffnung aufflammt, kommt es zu solchen Projektionen. Es ist nun einmal so: Kenan Yildiz aus Regensburg hat die Phantasien der Tifosi und den Glauben an eine goldene Zukunft von Juventus Turin beflügelt. Der italienische Rekordmeister tritt an diesem Mittwoch bei RB Leipzig in der Champions League an. Jenes Turnier wurde von den Turinern zuletzt 1996 gewonnen, mit Del Piero im Team. Seither hechelt man im Piemont diesem Titel hinterher, kam seither sogar noch fünfmal ins Finale (1997, 1998, 2003,

2015, 2017), zog aber immer den Kürzeren. Wenn also ein Spieler aus der gegenwärtigen Mannschaft einen fußballerischen Akt aufführt, der wie ein Ticket in eine glorreiche Zukunft wirkt, dann gibt es auch im sonst eher unterkühlten Turin kein Halten mehr. Champions-League-Saison 2024/25, erster Spieltag, Juventus Turin gegen die PSV Eindhoven. Es läuft die 21. Spielminute. Yildiz, gebürtiger Oberpfälzer und türkischer Nationalspieler, bekommt im linken Halbfeld den Ball. Mit fünf Berührungen im Sprint bringt der Juventus-Spieler ihn in den Strafraum, zirkelt ihn aus dem Fußgelenk in den rechten oberen Winkel - ein Traumtor. Die Älteren im Juventus Stadium haben so etwas doch schon einmal gesehen, fast identisch: Juventus Turin spielte am 13. November 1995 im Dortmunder Westfalenstadion. Auch damals hatte der Spieler mit der Nummer zehn den Ball und beförderte ihn, in der Torvorbereitung etwas umständlicher als Yildiz, auf atemraubende Weise in den Winkel. Jener Treffer des damals erst 20 Jahre alten Pinturicchio alias Alessandro…

FAZ, 6.9.2024 - Das Ausscheiden im EM-Achtelfinale hat Spuren hinterlassen - nicht nur bei Trainer Luciano Spalletti

Die Graugänse Hansi Flicks sind bei Luciano Spalletti Enten. Sie sitzen im Weiher seines Bauernhofs in Montaione südwestlich von Florenz in der Toskana. Hier, am Ort seines Rückzugs, hat der "commissario tecnico" der italienischen Fußball-Nationalmannschaft fast den gesamten Sommer verbracht. Oft saß Spalletti auf seinem Traktor, zwischen Vogelstrauß und Esel. Gespräche führte der Coach vor allem mit sich selbst. Er habe sehr viel nachgedacht, berichtete Spalletti zum Start der neuen Saison. "Es war ein schrecklicher Sommer, denn auch wenn ich mich gezwungen habe, nicht daran zu denken, gingen meine Gedanken immer wieder zurück zum Spiel gegen die Schweiz." Eigentlich geht es für Italien an diesem Freitag zu Beginn der Nations League in Paris gegen den Erzrivalen Frankreich. Wie es scheint, sollen dieses und die folgenden Spiele (gegen Israel und Belgien) Italien und seinem Trainer aber vor allem zur Überwindung angehäufter Enttäuschungen dienen. Unverdaute verpasste Qualifikationen Da wäre zum Einen die bedrückende 0:2-Niederlage aus dem EM-Achtelfinale Ende Juni gegen die Schweiz, die in Italien als neuerlicher Tiefpunkt in der Geschichte der Nationalmannschaft aufgefasst

wird. Hilflos, fantasielos und eingeschüchtert schied die Squadra Azzurra aus. Unverdaut sind weiterhin auch die beiden verpassten Qualifikationen für die WM-Turniere 2018 und 2022, weshalb der Auftakt zur Nations League für Italien mit einem besonders großen Gewicht daherkommt. Das Abschneiden bei dem nun beginnenden Turnier beeinflusst die Auslosung der Gruppen für die Qualifikation zur WM 2026, zu der die UEFA diesmal 16 statt zuletzt 13 Teilnehmer entsenden wird. Eine weitere Zuschauerrolle bei einer WM würde auch im eigenen Land die Gewissheit zementieren, dass man trotz des Überraschungssiegs bei der EM 2021 und vier in der Vergangenheit gewonnener WM-Titel schlicht nicht mehr dazugehört zum Kreis der großen Fußballnationen. Es liegt also eine gewisse Schwere über diesem Neubeginn. Spalletti will jenem Trend mit Leichtigkeit begegnen, die allein schon charakterlich nicht gerade eine Spezialität des 65-Jährigen aus der Toskana ist. "Ich bewundere Spalletti für sein Misstrauen gegenüber dem Glück", hatte der aus…

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. Januar 2024 - José Mourinho sieht sich außerstande zu zaubern. Eine paar Tage später trennt sich AS Rom von seinem schillernden Trainer.

José Mourinho

José Mourinho

Entzauberung ist ein passendes Wort für das, was dieser Tage mit José Mourinho passiert ist. Vielleicht sogar Selbst-Entzauberung. Es war vergangene Woche, vor dem Spiel beim AC Mailand, als der Trainer des AS Rom in seiner gewöhnlich ätzenden und provokanten Art erklärte, die Leute erwarteten von ihm immer ein kleines Wunder, aber er heiße nun einmal nicht José Harry Mourinho Potter. Nein, als Zauberer kann man den 60 Jahre alten Portugiesen beim besten Willen nicht mehr bezeichnen. Am Dienstag hat die amerikanische Eigentümerfamilie Friedkin beim AS Rom den Coach von seinem Amt entbunden.Wenn Entscheidungen, einen Trainer freizustellen, für die Verantwortlichen nie leicht sind, dann muss sie diesmal besonders schwer gewesen sein. Denn Mourinho entwickelte sich innerhalb von zweieinhalb Jahren bei den Tifosi in Rom zu einer Ikone. Man hat ihm in der italienischen Hauptstadt Wandmalereien gewidmet, zu seinen Ehren Kerzen angezündet, ihm Stoßgebete gewidmet. Es wird alleine dem einstigen Meister der europäischen Pokalsiege zugeschrieben, dass er die Conference League gewann, jenen dritten, von manchen als

unterklassig angesehenen Wettbewerb nach Rom holte, als ersten größeren Titel seit der Meisterschaft 2001. Mourinholieß sich daraufhin ein Tattoo stechen, die alle drei mit ihm gewonnenen europäischen Meisterschaften, die Champions League mit dem FC Porto (2004) und Inter Mailand (2010), die Europa League mit Porto (2003) und Manchester United (2017) sowie die Conference League zeigt. Mit "Mou" war die Roma unverhofft ganz oben angekommen, wenn auch dieser Höhenflug mehr ein Gefühl als eine Tatsache war. Zweimal belegte die Mannschaft am Saisonende den sechsten Platz, obwohl eigentlich das Erreichen der Champions League die Vorgabe war. 2023 verlor das Team das Finale der Europa League gegen den FC Sevilla im Elfmeterschießen. Der Coach wurde nicht müde zu betonen, dass er solche Tifosi wie in Rom noch nicht gesehen habe. "Die unglaublichsten Fans, die ich je im Leben erlebt habe", sagte er erst in der vergangenen Woche wieder. Liebe wäre das falsche Wort zur Beschreibung jener Symbiose. Die…

FAZ, 28.September 2022 - Italien zieht ins Final Four der Nations League ein - doch das Trauma der verpassten WM schmerzt.

Es war Halbzeit, Ungarn lag am Montagabend mit 0:1 gegen Italien zurück. Da also die Lage noch keineswegs aussichtslos war, ließen sich die Veranstalter in der Budapester Puksás-Arena eine kleine Gemeinheit anlässlich des letzten Spiels der Gruppenphase in der Nations League einfallen. Auf der Videoleinwand im Stadion waren bewegte Bilder zu sehen, auf denen ein Spieler in azurblau einen Elfmeter verschießt. Die Situation hat in Italien den Stoff für ein kollektives Trauma. Denn hätte der in Brasilien geborene Italiener Jorginho im vergangenen November im Stadio Olimpico von Rom den Ball im Spiel gegen die Schweiz nicht über das Tor gedroschen, wäre Italien im Winter wohl bei der WM dabei. Als Gastgeber diese Szene einzuspielen, war also kein Akt der Freundlichkeit. Man muss die Mannschaft von Roberto Mancini allerdings gar nicht explizit an ihre selbstgemachten Dramen erinnern. Dass der viermalige Weltmeister und amtierende Europameister Italien zum zweiten Mal hintereinander eine WM verpasst, steckt der Nation längst in den Genen. Sogar der etwas überraschende Einzug in das Final

Four der Nations League, den Italien mit einem verdienten 2:0-Sieg gegen Ungarn bewerkstelligte, kann nicht über diese Tatsache hinwegtäuschen. Man musste am Dienstag nur die Titel der Zeitungen in Italien lesen, um zu verstehen, wie tief das Trauma trotz sitzt. „Wie traurig!“ titelte der Corriere dello Sport und schrieb: „Der Schmerz über die verpasste WM-Qualifikation ist größer.“ „Italien, bittere Freude“, war auf der ersten Seite der Gazzetta dello Sport zu lesen und darunter: „Wir sind bei den Final Four, aber das ist kein Trost“. Es ist ja tatsächlich eine nicht zu beantwortende Frage, warum die italienische Nationalmannschaft ihre Anhänger mit derartig unterschiedlichen Leistungen um den Verstand bringt. Erst der EM-Titel, dann Unentschieden gegen Bulgarien, die Schweiz und Nordirland in der WM-Qualifikation. Zuletzt ein 0:1 im Playoff gegen Nordmazedonien und die fußballerische Apokalypse. Gegen Ungarn und zuvor gegen England war ein engagiertes Team zu sehen, das mit jungen Spielern den Gegner stark unter Druck setzte,…