FAZ, 4. Juni 2022 - Der italienische Fußball erlebt seine zweite Stunde null innerhalb von vier Jahren.

Italien, die Fußballnationalmannschaft, auch squadra azzurra genannt - da klingen Fußballliebhabern allein schon angesichts der Geschichte die Ohren. Viermal Weltmeister war Italien, vor einem Jahr sogar Europameister. Ein Jahr später, im Juni des Jahres 2022, muss man sich an ganz neue Töne gewöhnen, die der Verteidiger Giorgio Chiellini am Mittwochnacht für seine Landsleute so zusammengefasst hat: "Das wird jetzt eine ganz schwierige Zeit, bitte steht der Nationalelf bei!" Chiellini war bis Mittwoch Abend Kapitän der Azzurri, nach seinem 117. Länderspiel beendete der 37-Jährige erwartungsgemäß seine Karriere in der Nationalmannschaft. Der Verteidiger war bislang bei Juventus Turin unter Vertrag, jetzt wird er noch für eine Ehrenrunde in die US-Liga zum FC Los Angeles wechseln. Seinen Abschied hatte sich Chiellini anders vorgestellt. Jedenfalls nicht mit einer Auswechslung zur Halbzeit und einer "Demütigung", wie die italienischen Gazetten übereinstimmend urteilten. Europameister Italien hatte im Londoner Wembleystadion nicht nur die "Finalissima" gegen Südamerikameister Argentinien mit 0:3 verloren, sondern sich dabei auch noch blamiert. Wenn das Team von Trainer Roberto Mancini nun an diesem Samstag in

Bologna die deutsche Nationalmannschaft am ersten Spieltag der Nations League empfängt, kann kaum von einem Duell auf Augenhöhe die Rede sein. "Wir werden ihre Sparringspartner auf dem Weg zur Weltmeisterschaft sein", schrieb resigniert "La Repubblica". Am Samstag in einer Woche muss Italien gegen England antreten, auch hier schwant den heimischen Beobachtern Übles. Das italienische Selbstbewusstsein, insgesamt und besonders im Fußball eigentlich unerschütterlich, liegt ein Jahr nach dem EM-Triumph in Trümmern. Der Niedergang begann wohl schon in der Stunde des Triumphes. Es war ja eine große Überraschung, dass es Mancini gelang, ein so schlagfertiges, rasant und fußballerisch eher unitalienisch auftretendes Team zu formen, das dann auch noch den EM-Titel holte. Schon gegen Ende des Turniers stockte die Angriffslust der Italiener, der wichtigste taktische Kniff mit dem standardmäßig auf die Linie der Angreifer aufgerückten Außenverteidiger Leonardo Spinazzola funktionierte seit dessen Achillessehnenriss im Viertelfinale gegen Belgien nicht mehr. Im Nachhinein erinnert Italiens EM-Sieg…