TagesWoche, 25. Juli 2016 Hexerei, böser Blick oder einfach Pech: Ein kleines Dorf in Süditalien scheint verflucht zu sein. Jetzt versucht die Gemeinde, ihren Ruf als Hort des Unglücks abzustreifen.

Hort des Aberglaubens: das Dorf Colopbraro in Kalabrien. Foto: Gaetano Virgallito

Hort des Aberglaubens: das Dorf Colopbraro in Kalabrien. Foto: Gaetano Virgallito

Andrea Bernardo hat den miserablen Ruf seines Dorfes am eigenen Leib erlebt. Als Jugendlicher brauchte er einst ein amtliches Dokument und nahm zu diesem Zweck die stundenlange Reise in die Provinzhauptstadt Matera auf sich. Die Beamten nahmen den Antrag entgegen und gaben zu verstehen, dass Bernardo das Schreiben in den nächsten Tagen oder Wochen abholen könne. «Ich komme aus Colobraro», sagte Bernardo, der heute 52 Jahre alt und Bürgermeister des angeblich unglückseligsten Dorfes in Italien ist. Da erfasste die Beamten ein mysteriöser Eifer. Nach zwei Stunden war das Schreiben bereit. Es ist für Menschen, bei denen die Aufklärung Spuren hinterlassen hat, nur schwer zu verstehen. Doch der Aberglaube ist auch in Europa weit verbreitet, nicht zuletzt in Süditalien. Colobraro in der Region Basilikata, 80 Kilometer von Matera entfernt, der europäischen Kulturhauptstadt 2019, scheint das Epizentrum für den Glauben an allerlei Übernatürliches zu sein. Um einem möglichen Fluch zu entgehen, beeilten sich damals die Beamten bei der Beschaffung des Dokuments für Bernardo ganz besonders. Bis heute nehmen die Menschen in der Umgebung den Namen des Dorfes gar nicht erst in

den Mund, aus Angst vor fürchterlichen Folgen. «Quel paese», sagen sie nur. «Dieses Dorf.» Auch die Carabinieri fürchten sich Wer so viel Irrationalität für unmöglich hält, der ruft am besten beim Bürgermeister der 1300-Seelen-Gemeinde höchstpersönlich an. «Es stimmt, der Aberglaube ist bei uns sehr weit verbreitet», bestätigt Bernardo. Er selbst halte allerdings eher wenig davon. Doch die Legende vom miserablen Colobraro hat sich längst verselbstständigt. Da ist die Dorfbewohnerin, die erzählt, dass ihre Mitschüler aus den umliegenden Dörfern Eisen berührten, wenn sie vorbei kam. Eisen gilt bei abergläubischen Italienern als Ableiter für den bösen Blick oder ähnliches Unglück. Eine andere Frau berichtet, dass Leute aus der Umgebung nicht mit ihr in den Lift steigen wollen, weil sie als Colabrese Pech bringe. Wer darin bloss reinen Wahnsinn erkennt, der kann sich auch andere Episoden zum Besten geben lassen, etwa von auffällig vielen geplatzten Autoreifen…

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. Juli 2016 Warum hat Italien die wichtigen Duelle mit Deutschland immer gewonnen? Gianni Rivera, 1970 Siegtorschütze im Jahrhundertspiel und später Europa-Parlamentarier, erklärt es im Interview.

Gianni Rivera. Hier auf einer alten Briefmarke im Dress des AC Mailand.

Gianni Rivera. Hier auf einer alten Briefmarke im Dress des AC Mailand.

Es war ein eher unspektakulärer Flachschuss, mit dem Gianni Rivera die deutsch-italienische Rivalität im Fußball begründete. Am 17. Juni 1970 erzielte der damalige Angreifer des AC Mailand in der Verlängerung des WM-Halbfinales das Tor zum 4:3-Sieg für Italien. Seither gilt Rivera als (natürlich parteiischer) Experte für deutsch-italienische Duelle. Rivera ist heute 72 Jahre alt und Funktionär beim italienischen Fußballverband. Zuvor war er als Christdemokrat EU-Parlamentarier, italienischer Abgeordneter und Staatssekretär im Verteidigungsministerium. Ihr legendärer Treffer zum 4:3 im WM-Halbfinale 1970 gegen Deutschland liegt jetzt 46 Jahre zurück und ist doch immer wieder ein Thema. Warum? Richtig verstanden habe ich das nie. Fernsehen gab es damals erst seit kurzer Zeit. Es war Sommer, viele Leute, die gar nicht so viel übrig hatten für Fußball, sahen die Partie. Das war ein kollektives Erlebnis. Außerdem ist das Spiel ständig gekippt. Erst lagen wir vorne, dann hat Karl-Heinz Schnellinger in der 90. Minute ausgeglichen. In der Verlängerung ist Deutschland mit Gerd Müller in Führung gegangen, wir haben ausgeglichen, dann hat uns Gigi Riva in Führung gebracht. Wieder

der Ausgleich durch Müller. Und dann kam ich, 111. Minute. Stimmen Sie zu, dass Ihr Treffer der Beginn der deutsch-italienischen Rivalität im Fußball war? Das kann man so sagen. Es war schon verrückt. Ihr wart damals bekannt für Kraft, Körperlichkeit und Ausdauer. Wir galten in dieser Hinsicht als unterlegen. Dass wir uns in der Verlängerung durchsetzten, war also ein doppelter Erfolg. Das Spiel wurde zum „Spiel des Jahrhunderts“, weil es immer auf und ab ging, beide Mannschaften standen kurz vor dem Sieg, dann kam das andere Team wieder zurück. Danach waren alle irgendwie aufgewühlt, nicht nur Italiener und Deutsche. Welche besonderen Erinnerungen haben Sie an damals? Das war ein ganz besonderer, emotionaler Moment. Die Leute in Italien liefen auf die Plätze und hatten erstmals seit langer Zeit wieder Grund in aller Öffentlichkeit zu feiern. Der Krieg war noch nicht lange vorbei. Auch politisch war die Zeit in Italien…

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. Juli 2016 Wie Italien mit taktischen Mitteln seine Gegner zu überlisten versucht.

Italiens Nationaltrainer Antonio Conte.

Italiens Nationaltrainer Antonio Conte.

Antonio Conte ist ein religiöser Mensch. Vor den Spielen seiner Mannschaft befolgt der italienische Nationaltrainer feste Rituale, er telefoniert mit seiner Familie im süditalienischen Lecce und betet. Während der Fastenzeit verzichtet der Katholik auf Kaffee, Süßigkeiten und Alkohol. Als Trainer von Juventus Turin hat er schon Heiligenbildchen geküsst und wie einst Giovanni Trapattoni Weihwasser verspritzt, am Handgelenk trägt er einen Rosenkranz aus dem Wallfahrtsort Medjugorje. Auf höhere Mächte will sich der 46 Jahre alte Trainer dennoch nicht ganz verlassen. Conte hat die strategische Tradition seiner Vorgänger perfektioniert. Die deutsche Nationalmannschaft wurde in der Vergangenheit schon mehrmals Opfer der taktischen Finessen der Italiener. Als Meisterwerk gilt in Italien der Schachzug im WM-Halbfinale von 2006, als Spielmacher Francesco Totti gegen sein Naturell angewiesen wurde, auf die Flügel auszuweichen und seinen Bewacher Sebastian Kehl mit sich zu ziehen. Totti nahm sich so de facto selbst aus der Partie, in der Spielmitte taten sich dadurch aber Räume auf. Die Italiener nutzten sie, gewannen 2:0 und wurden anschließend Weltmeister. Einen ähnlichen Spielzug zeigte Italien auch bei dieser

EM, er könnte die bevorzugte Waffe im Viertelfinale gegen Deutschland sein. Zwar hat Italien derzeit keinen überragenden Aufbauspieler. Conte hat deshalb seinen Stürmer Graziano Pellè als primäre Anspielstation in der Spitze bestimmt. Um Pellè direkt zu bedienen räumen die italienischen Mittelfeldspieler regelmäßig das Zentrum des Feldes frei, indem sie sich bei Ballbesitz weit vorne und oft am Rand der Außenlinie positionieren. Die gegnerische Verteidigung wird so zu Lücken gezwungen. Pellè kommt dem langen Ball aus der eigenen Abwehr entgegen, die Ballannahme ist seine Spezialität. Planmäßig legt er den Ball direkt auf seinen Sturmpartner Éder oder einen nachrückenden Spieler wie Emanuele Giaccherini ab, die in die Lücken stoßen. Éder hatte im Achtelfinale gegen Spanien auf diese Weise mehrmals freien Weg zum Tor. Diesen vertikalen Automatismus hat Conte trainiert. Italien pflegt den koordinierten Spielaufbau aus der Abwehr. Dabei ist auch Torwart Gigi Buffon entgegen anderslautender Vorurteile stark an der Zirkulation beteiligt. Weil…