Die lauteste Stimme Neapels klingt leise und erschöpft. Man muss sich sehr nahe zu Raffaele Auriemma setzen, um seine Worte zu verstehen, während hupende Motorräder, Roller, Kleinwagen und Busse am Tisch des Cafés an der Uferpromenade vorbeibrausen. Neapel ist laut, und der TV-Reporter ist einer der lautesten in dieser Stadt, aber nur während der Partien des SSC Neapel. Den Rest der Woche muss er seine Stimme schonen. Auriemma ist das berühmteste Exemplar einer seltenen Spezies, die entweder Kopfschütteln oder Ekstase hervorruft. Er ist "commentatore tifoso" - Fan-Kommentator des SSC Neapel. Alle paar Minuten muss der dunkelblonde Schlaks mit Halstuch und Hornbrille fremde Hände schütteln und Komplimente entgegennehmen. Er ist die Stimme einer Stadt, die sonst kaum Gehör findet. Aber wenn der legendäre Reporter beim ersten Sieg des SSC Neapel gegen Juventus Turin seit über 20 Jahren den zweimaligen Torschützen Marek Hamsik brüllend zum "Unesco-Weltkulturerbe" erhebt und kreischend darum bittet, sofort in Turin beerdigt zu werden, weil mehr von diesem Leben nicht zu erwarten sei, dann sind das die Worte, die Neapels Glück am besten Ausdruck
geben. Erstmals seit den glorreichen Zeiten Ende der 80er Jahre spielt der SSC Neapel wieder in der Champions League. Am Dienstagabend tritt der FC Bayern München im Gruppenspiel im Stadio San Paolo an, einer riesigen Betonschüssel, die wie vieles in Neapel ein Anachronismus ist. Auf dieser baufälligen Bühne wollen die Neapolitaner endlich wieder international von sich reden machen, aber diesmal eben nicht mit negativen Schlagzeilen über das neueste Attentat der Camorra oder stinkende Müllberge auf den Straßen. "Im Fußball suchen wir das, was wir im Leben nicht haben", flüstert Auriemma. Die Neapolitaner sind täglich mit unzähligen Schwierigkeiten konfrontiert, mit einer Arbeitslosigkeit von mehr als 30 Prozent, mit niedrigen Löhnen, Kriminalität, dem chaotischen Verkehr und dem immer noch nicht endgültig gelösten Müllproblem. Der vor kurzem neu gewählte Bürgermeister der Bewegung Italia dei valori (Italien der Werte) hat zwar frischen Wind gebracht, aber dass er die riesigen…