Cicero, 29.10.2013 Papst Franziskus ist dabei, der katholischen Kirche ein menschliches Gesicht zu geben und hat so eine neue Begeisterung ausgelöst. Gläubige aller Religionen wie auch Atheisten fühlen sich von ihm angesprochen. Wie erklärt sich die Strahlkraft dieses Kirchenoberhaupts?

Sie ist schwarz, abgegriffen und unscheinbar. Aber die lederne Aktentasche ist wieder einer dieser kleinen Gegenstände, mit denen er Großes sagen möchte, mit denen er Wirkung erzeugen will: Papst Franziskus, Meister des Details. Natürlich trägt er die Tasche selbst, auch auf seiner ersten Auslandsreise zum Weltjugendtag nach Rio de Janerio. Den Berichterstattern, die ihn begleiten, entgeht sie nicht. Als er auf dem Rückflug spontan eine Pressekonferenz gibt, ist deshalb auch sein Handgepäck Thema. Die Schlüssel für die Atombombe seien nicht drin, scherzt Franziskus. Stattdessen: „Ein Rasierer, das Brevier (ein Buch mit Stundengebeten), mein Kalender, ein Buch zum Lesen, ich habe eines über die Heilige Thérèse mitgenommen, die ich verehre. Ich habe diese Tasche immer auf Reisen dabeigehabt, das ist normal.“ Der Papst macht eine kurze Pause. „Wir müssen normal sein.“ Suche nach der Normalität Damit meint Franziskus vor allem den Klerus und die Kurie, den Verwaltungsapparat des Vatikans. Normalität sucht man hier seit einiger Zeit vergeblich. Erstmals in der Neuzeit ist ein Papst zurückgetreten, Benedikt XVI. war schon lange nicht mehr Herr

im eigenen Haus. Er ließ sich auf einen Streit mit den Traditionalisten der Piusbruderschaft ein. Nicht nur Pädophilie-Skandale erschütterten die Kirche, sondern auch die Vatileaks-Affäre um gestohlene Geheimdokumente und den untreu gewordenen Papst-Butler Paolo Gabriele, Gerüchte um eine Homosexuellen-Lobby im Vatikan, Geldwäsche in der Vatikanbank. Von ihrer Aufgabe, der Verkündigung des Evangeliums, wirkte die Kirche Lichtjahre entfernt. Zeitweise glich der Vatikan einem zwielichtigen Unternehmen, in dem jeder machte, was er wollte. Seit Franziskus im Amt ist, sind die meisten dieser Probleme nicht verschwunden. Aber sie erscheinen jetzt in einem anderen Licht. Wer spricht noch von Vatileaks? Wohin haben sich die von der italienischen Presse „Raben“ getauften, anonymen Informanten verkrochen, die der Presse Geheimakten zusteckten? Vom Außenseiter zum Hirten von 1,2 Milliarden Katholiken Franziskus ist der erste Jesuit auf dem Stuhl Petri, der erste Papst aus Lateinamerika, er kommt „vom Ende der Welt“, wie er selbst am Abend seiner Wahl…

Süddeutsche Zeitung, 20.8.2013 Die kalabrische ’Ndrangheta vererbt ihren kriminellen Code über Generationen in den Familien weiter. Ein Richter will diesen Automatismus nun durchbrechen: Er nimmt den mafiösen Clans die Kinder weg.

Ein Vater holt seinen Sohn von der Schule ab. Dort war von der Mafia die Rede, jetzt bekommt der Kleine eine Lektion, die er für sein Leben nicht vergessen soll. „Hör mir gut zu, mein Sohn“, sagt der Vater. „Die Familie wendet sich nicht an das Gesetz. Sie sorgt selbst für Gerechtigkeit. Wenn dir jemand Unrecht getan hat, gehe ich nicht zur Polizei. Ich bringe ihn um.“ Dieses Gespräch haben italienische Staatsanwälte 2001 abgehört. Sie waren damals einem Boss der kalabrischen ’Ndrangheta auf der Spur. Die süditalienische Mafiaorganisation gilt als eine der mächtigsten kriminellen Vereinigungen der Welt. Sie ist eine der skrupellosesten Banden, spezialisiert auf den Handel mit Kokain und Waffen. 2008 wurde ihr Jahresumsatz auf 44 Milliarden Euro geschätzt. Die Familienbande unter Mitgliedern der ’Ndrangheta sind besonders eng. Für Ermittler ist es schwierig, die von Generation zu Generation weitervererbte kriminelle Tradition zu durchbrechen. Justiz-Kollaborateure gibt es in Kalabrien so gut wie nicht, im Gegensatz zu Sizilien oder Kampanien, wo die Ermittler auf die Mitarbeit ehemaliger

Mafiosi bauen können. Wie ein Naturgesetz wird der kriminelle Code über Generationen weitergegeben. Roberto Di Bella will diesen Automatismus durchbrechen. Der Sizilianer ist Präsident des Jugendgerichts in der Regionalhauptstadt Reggio Calabria, deren Stadtverwaltung vor einem Jahr vom italienischen Innenministerium aufgelöst wurde, weil sie von der ’Ndrangheta infiltriert war. Di Bellas Idee ist, die Kinder von Mafiosi, die den kriminellen Kurs ihrer Verwandtschaft einschlagen, ihren Familien zu entziehen. „Wir wollten den Zyklus durchbrechen, in dem negative kulturelle Werte vom Vater auf den Sohn weitergegeben werden“, sagte er in einem Interview. In mehr als 15 Fällen erließen er und seine Kollegin Francesca Di Landro entsprechende Verfügungen, die Jugendlichen standen wegen kleinerer Delikte vor Gericht. Das Gericht entschied: Die ’Ndrangheta-Bosse verlieren ihre Erziehungsberechtigung, ihre Kinder – meist handelt es sich um die männlichen Nachkommen – werden sozialen Einrichtungen fern ihrer Heimatregion anvertraut. Eklatant ist etwa der Fall eines 16 Jahre alten Sprösslings aus einem der einflussreichsten Clans…

Wirtschaftswoche (wiwo.de), 12.7.2013 Italien befindet sich in der größten Rezession seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Es sieht nicht so aus, als ob das Land es auf absehbare Zeit aus der Krise schafft.

Paolo Manasse hat drei Szenarien für Italien im Kopf. Wird die Regierung Letta wirksame Reformen einführen? "Glaube ich eher nicht", sagt Manasse. Zweitens: Langsames Dahinsiechen wie bisher und hoffen, dass der Aufschwung sobald wie möglich einsetzt. Drittens: Der Bruch der Regierungskoalition, weiteres Misstrauen der Märkte und schließlich die Flucht unter den EU-Rettungsschirm und in die Arme von Mario Draghi, dem Chef der Europäischen Zentralbank? "Fifty-Fifty", schätzt der renommierte Makroökonom von der Universität Bologna. Vielleicht ist es berufliche Abgeklärtheit, die die Stimme des Wirtschaftswissenschaftlers so kühl wirken lässt beim Durchspielen der Optionen für die nähere Zukunft seines Heimatlandes. Fest steht, die düstersten Szenarien haben in den Prognosen der Experten inzwischen dasselbe Gewicht wie die Hoffnung auf ein glimpfliches Ende. "Dieser August könnte unschöne Überraschungen bringen", prophezeit Manasse, der schon die EU-Kommission und den Internationalen Währungsfond (IMF) beraten hat. Italien hat entscheidende Wochen vor sich. Schon einmal stand das Land vor dem wirtschaftlichen Abgrund. 2011 hatte sich die Schuldenkrise für Italien extrem zugespitzt, die Anleger stuften die Kreditwürdigkeit des Landes immer niedriger ein, es drohte der Kollaps der Staatsfinanzen.

Premier Silvio Berlusconi musste zurücktreten, es übernahm der ehemalige EU-Kommissar Mario Monti. Angesichts des drohenden Desasters gelang Montis Regierung eine grundlegende Pensionsreform, die den Staatsfinanzen langfristig Luft verschaffen sollte. Als der Notstand fürs erste überwunden schien, das Vertrauen der Märkte zurückkam, wurden die weiteren von Monti konzipierten Reformen verwässert. Die trügerische Ruhe verleitete einige Parteien dazu, ihre altbekannte Klientelpolitik weiter zu verfolgen. Hier wurde ein Schräubchen gedreht und da eine Lobby ruhig gestellt, strukturelle Reformen blieben aus. Bis heute hat sich daran nichts wesentlich geändert. Dabei ist die Lage der italienischen Wirtschaft denkbar schlecht. Steigende Armut Der Internationale Währungsfonds (IMF) hat seine Prognose für den Rückgang des Bruttoinlandsprodukts in 2013 weiter nach unten korrigiert. Um fast zwei Prozent soll Italiens Wirtschaft schrumpfen. Das Land befindet sich in der größten Rezession seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Täglich müssen Hunderte Firmen schließen, die Arbeitslosigkeit steigt,…

taz, 9.3.2013 Der Journalist Gianluigi Nuzzi hat mit der Veröffentlichung geheimer Dokumente aus dem Papstbüro den „Vatileaks“-Skandal angestoßen. Er sagt, nirgends sei die Angst vor der Wahrheit so groß wie in der Kurie.

Der Arbeitstag des italienischen Enthüllungsjournalisten Gianluigi Nuzzi ist mit Terminen vollgestopft. Zum Gespräch schlägt der 43-Jährige deshalb spontan eine Fahrt in seinem SUV deutscher Herstellung vor. Der glatzköpfige Reporter trägt elegante braune Lederschuhe, beige Hose, dunkles Sakko und legt offenbar Wert auf Aufräumarbeiten. Er hat nicht nur die geheimen Dokumente aus dem Schreibtisch des Papstes veröffentlicht und damit den „Vatileaks“-Skandal ins Rollen gebracht. Mitten im Gespräch und im dichten Mailänder Berufsverkehr lässt er es sich nicht nehmen, seinem Gegenüber den umgestülpten Hemdkragen zurechtzurücken.  sonntaz: Signor Nuzzi, haben Ihre Enthüllungen Benedikt XVI. letztlich zum Rücktritt getrieben?  Gianluigi Nuzzi: Nein, so kann man das nicht sagen. Ratzingers Entscheidung war ein revolutionärer Schritt. Journalistische Recherchen genügen da nicht als Grund. Aber Sie haben mit der Veröffentlichung vieler brisanter Dokumente aus dem Büro des Papstes den „Vatileaks“-Skandal ausgelöst. Es ging um Korruption, Missmanagement, Günstlingswirtschaft. Insofern haben Sie doch zu seinem Rücktritt beigetragen.  Vor allem das Machtsystem Kurie ist für die Entscheidung Benedikts verantwortlich. Die katastrophalen Verhältnisse in Rom waren der Auslöser, nicht meine Recherchen. Sie glauben also nicht an die offizielle Version des alten Mannes, der sein Amt zum Wohl der katholischen Kirche

aufgibt?  Die These, dass der Papst nur aus Altersgründen zurückgetreten ist und weil er körperlich der Aufgabe nicht mehr gewachsen war, ist ein Märchen. Ich glaube nicht an Märchen, Sie? Ich denke, die Entscheidung hatte verschiedene Gründe: Alter, Schwäche, Enttäuschungen, ein Gefühl der Machtlosigkeit und ein Stück weit Taktik.  Das denke ich auch, man darf ja nicht vergessen, dass mit Ratzinger alle hohen Tiere in der Kurie ihre Position verlieren. Benedikt hat mit seiner Entscheidung Tabula rasa gemacht. Er gibt seinem Nachfolger die Chance zum Wiederaufbau. Wie haben Sie den Rücktritt erlebt?  Das war ein Schock für mich. Ich war orientierungslos und geriet beinahe in Panik. Ich meine, da ist ein Bezugspunkt der gesamten christlichen Welt weggebrochen. Panik? Sie wirken auf den ersten Blick gar nicht so labil. Was für ein Verhältnis haben Sie zur katholischen…