taz, 9.3.2013 Der Journalist Gianluigi Nuzzi hat mit der Veröffentlichung geheimer Dokumente aus dem Papstbüro den „Vatileaks“-Skandal angestoßen. Er sagt, nirgends sei die Angst vor der Wahrheit so groß wie in der Kurie.

Der Arbeitstag des italienischen Enthüllungsjournalisten Gianluigi Nuzzi ist mit Terminen vollgestopft. Zum Gespräch schlägt der 43-Jährige deshalb spontan eine Fahrt in seinem SUV deutscher Herstellung vor. Der glatzköpfige Reporter trägt elegante braune Lederschuhe, beige Hose, dunkles Sakko und legt offenbar Wert auf Aufräumarbeiten. Er hat nicht nur die geheimen Dokumente aus dem Schreibtisch des Papstes veröffentlicht und damit den „Vatileaks“-Skandal ins Rollen gebracht. Mitten im Gespräch und im dichten Mailänder Berufsverkehr lässt er es sich nicht nehmen, seinem Gegenüber den umgestülpten Hemdkragen zurechtzurücken.  sonntaz: Signor Nuzzi, haben Ihre Enthüllungen Benedikt XVI. letztlich zum Rücktritt getrieben?  Gianluigi Nuzzi: Nein, so kann man das nicht sagen. Ratzingers Entscheidung war ein revolutionärer Schritt. Journalistische Recherchen genügen da nicht als Grund. Aber Sie haben mit der Veröffentlichung vieler brisanter Dokumente aus dem Büro des Papstes den „Vatileaks“-Skandal ausgelöst. Es ging um Korruption, Missmanagement, Günstlingswirtschaft. Insofern haben Sie doch zu seinem Rücktritt beigetragen.  Vor allem das Machtsystem Kurie ist für die Entscheidung Benedikts verantwortlich. Die katastrophalen Verhältnisse in Rom waren der Auslöser, nicht meine Recherchen. Sie glauben also nicht an die offizielle Version des alten Mannes, der sein Amt zum Wohl der katholischen Kirche

aufgibt?  Die These, dass der Papst nur aus Altersgründen zurückgetreten ist und weil er körperlich der Aufgabe nicht mehr gewachsen war, ist ein Märchen. Ich glaube nicht an Märchen, Sie? Ich denke, die Entscheidung hatte verschiedene Gründe: Alter, Schwäche, Enttäuschungen, ein Gefühl der Machtlosigkeit und ein Stück weit Taktik.  Das denke ich auch, man darf ja nicht vergessen, dass mit Ratzinger alle hohen Tiere in der Kurie ihre Position verlieren. Benedikt hat mit seiner Entscheidung Tabula rasa gemacht. Er gibt seinem Nachfolger die Chance zum Wiederaufbau. Wie haben Sie den Rücktritt erlebt?  Das war ein Schock für mich. Ich war orientierungslos und geriet beinahe in Panik. Ich meine, da ist ein Bezugspunkt der gesamten christlichen Welt weggebrochen. Panik? Sie wirken auf den ersten Blick gar nicht so labil. Was für ein Verhältnis haben Sie zur katholischen…

Cicero, 23.2.2013 Pier Luigi Bersani will italienischer Ministerpräsident werden

La Casta ist der liebste Feind der Italiener. Die Kaste der Politiker, deren Vertreter sich seit Jahrzehnten im politischen Betrieb tummeln, rangiert nach unzähligen Skandalen in der Beliebtheitsskala mutmaßlich noch hinter Leichenbestattern und Steuerfahndern. Dennoch ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass nach den Parlamentswahlen am 24. und 25. Februar ausgerechnet ein Vertreter dieser verhassten Spezies der nächste italienische Regierungschef wird. Sein Name: Pier Luigi Bersani. Bersani ist Chef der Partito Democratico (PD), Italiens großer Mitte-links-Partei. Er ist seit mehr als 30 Jahren Berufspolitiker und damit unzweifelhaft ein Vertreter des politisch-bürokratischen Apparats. Was die Anhänger der PD nicht davon abhielt, sich bei der Urwahl im vergangenen Dezember zwischen dem 61 Jahre alten Apparatschik und dem 37 Jahre alten, dynamischen Bürgermeister von Florenz, Matteo Renzi, mit 60 Prozent für Bersani als Spitzenkandidaten zu entscheiden. Die jüngsten Umfragen geben ihnen jedenfalls recht: Ihr Mitte-Links-Bündnis kommt derzeit auf bis zu 40 Prozent, Berlusconis Popolo della Libertà auf 17 Prozent und Mario Montis Drei-Parteien-Bündnis auf lediglich 12 Prozent. Das deutliche Votum für Bersani sagt einiges aus über Italien und noch mehr über den

Spitzenkandidaten selbst: Das Bedürfnis der Italiener nach unverbrauchtem Personal ist offenbar weniger groß, als es scheint. Vor allem aber vertrauen die meisten in den Untiefen der italienischen Politik lieber einem erfahrenen Steuermann als unbekannten Matrosen. Kenner der Institutionen Im parteiinternen Wettbewerb punktete Bersani vor allem als vertrauenswürdiger Kenner der Institutionen. Er war Anfang der neunziger Jahre Präsident seiner Heimatregion Emilia-Romagna, später ein eher unauffälliger Abgeordneter im EU-Parlament sowie dreimal Minister, unter anderem für Industrie und wirtschaftliche Entwicklung im Kabinett von Romano Prodi. Bersani gilt als Wirtschaftsfachmann und brachte als Minister die ersten Liberalisierungen in Italien auf den Weg. Ausgerechnet er, der als junger Mann mit der linksradikalen „Avantgarde der Arbeiter“ sympathisierte und Mitglied der Kommunistischen Partei war. In seinem Heimatort Bettola, einer christdemokratischen Enklave der traditionell linken Emilia-Romagna, nannten sie ihn deshalb „das rote Schaf“. Nach dem Philosophiestudium in Bologna und einer Magisterarbeit über Papst Gregor den Großen versuchte sich der…

Süddeutsche Zeitung Online, 4.8.2012 800 afrikanische Flüchtlinge besetzen einen verwahrlosten Wohnklotz im Süden Roms. Vom italienischen Staat erhalten sie keine Hilfe - und mancher Bewohner sehnt sich nach einem Platz im Gefängnis.

Fotos: Max Intrisano

Fotos: Max Intrisano

Ein Heer von Fliegen surrt durch die stickige Luft. Aus den geborstenen Rohren plätschert Wasser. Ein junger Mann wringt ein T-Shirt über dem gelblich gewordenen Waschbecken aus. In der einzigen Toilette, die Hunderte Menschen gemeinsam benutzen, riecht es streng nach Urin. Palazzo Salaam, Palast des Friedens, oder Hotel Africa nennen die Bewohner diesen Klotz am südlichen Stadtrand Roms. Palast der Schande wurde er auch getauft, dieser Name trifft die Verhältnisse schon eher. Etwa 800 Männer, Frauen und Kinder, allesamt Flüchtlinge aus den Kriegs- und Krisengebieten am Horn von Afrika haben hier Zuflucht gefunden, eingepfercht zwischen dem Lärm der nahen Stadtautobahn und dem Trubel eines Einkaufszentrums. Alle sind sie aus Ländern wie Sudan, Somalia, Eritrea oder Äthiopien geflohen. In Hoffnung auf Frieden. Gelandet sind sie in Verhältnissen, wie man sie keinem Menschen wünscht. "Das hier ist ein Hundeleben, aber eigentlich geht es den meisten Hunden besser als uns", sagt Biraddin Abdalla. Er ist 28 Jahre alt und nach einer lebensgefährlichen Odyssee aus Darfur über Libyen und das Mittelmeer nach Italien gekommen. Wolldecken sollen Privatsphäre

schaffen Einst wandelten Literaturstudenten auf den Gängen des Palazzos. Dann zog die Universität aus und die Flüchtlinge besetzten die acht Stockwerke des verlassenen Hochhauses. Vor sieben Jahren war das. Jetzt liegen hier überall Glasscherben, stinkender Müll, zerbrochene Fenster und Flaschen. Stromkabel sind aus den Wänden gerissen, die Matratzen aus Schaumgummi haben Löcher. Mit Gipswänden und von den Decken hängenden Wolldecken haben einige versucht, sich so etwas wie Privatsphäre zu schaffen. Viele, vor allem junge Männer, blicken teilnahmslos ins Nichts. Sie haben glasige Augen. Manche reagieren auf Fragen, als seien sie betäubt. Vor einigen Wochen, mitten in der Sommerhitze, wurde den Flüchtlingen das Wasser abgedreht, für drei Tage. "Wir sind aus Darfur geflohen, weil dort Krieg herrscht. Aber hier sind wir in einem kalten Krieg gelandet", sagt Abdalla. Damit meint er die Zustände, in denen die meisten politischen Flüchtlinge in Italien leben. Abdalla gehört zu einem achtköpfigen Komitee,…

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 8.4.2012 Zwei unbekannte Fußballprofis deckten den Wettskandal in Italien auf. Nun werden sie gefeiert - und müssen ihren alten Platz im Leben wiederfinden.

Es ist jetzt ein Jahr her, dass Fabio Pisacane ein Niemand war. Ein Niemand, dem im April 2011 der Sportdirektor seines früheren Vereins Ravenna Calcio 50 000 Euro anbot, wenn er mit dem AC Lumezzane, seinem damaligen Klub, absichtlich verlieren würde. Pisacane lehnte ab, zeigte Giorgio Buffone an und trug zur Aufdeckung des italienischen Wettskandals bei. Inzwischen kennt man den 26 Jahre alten Verteidiger im ganzen Land, auch auf den Plätzen der dritten Liga. Beim Auswärtsspiel in Pavia vor ein paar Wochen beschimpfte ihn ein gegnerischer Spieler von der Bank und rief: "Buscetta!" Pisacane hatte Mühe, ruhig zu bleiben, aber er sagte nichts. Tommaso Buscetta war der bekannteste Kronzeuge der sizilianischen Mafia, ein Massenmörder, der später das System der Cosa Nostra auffliegen ließ. Täglich gelangen neue Details über das faulige System des Calcio an die Öffentlichkeit. Andrea Masiello, der frühere Kapitän des AS Bari, hat zugegeben, in der vergangenen Saison im Spiel gegen US Lecce absichtlich ein Eigentor erzielt zu haben. Er und seine

Komplizen sollen dafür 250 000 Euro von der Wettmafia bekommen haben. Wieder ist die Rede von Serie-A-Vereinen, die in Manipulationen verwickelt sind, neben Bari und Lecce auch der AC Cesena, Udinese Calcio, Chievo Verona, CFC Genua und US Palermo. Spieler wie Masiello, Paolo Gervasoni, Cristiano Doni sind als reuige Betrüger in den Schlagzeilen. Fabio Pisacane wurde bekannt, weil er eine Straftat angezeigt hat. "Das ist doch etwas ganz Normales", sagt er. "Ich wundere mich, dass meine Anzeige so viel Aufregung verursacht hat." Die Aufregung kam allerdings mit Verspätung. Zunächst war alle Aufmerksamkeit auf Simone Farina gerichtet. Auch er ist ein Verteidiger, auch er hatte einen Bestechungsversuch angezeigt. Ein alter Bekannter aus der gemeinsamen Zeit in der Jugendmannschaft des AS Rom hatte ihm 250 000 Euro geboten, damit Farina dafür sorgt, dass sein Verein, der umbrische Zweitligaabsteiger AS Gubbio, im Pokalspiel gegen Cesena mit einer hohen Niederlage ausscheide. Während niemand von Pisacane sprach, der denselben Mut wie…