Cicero, 30.1.2014 Mario Draghi will den Euro um jeden Preis retten. Wer sich dem Chef der Europäischen Zentralbank in den Weg stellt, den lässt er einfach stehen. Von Till Knipser und Julius Müller-Meiningen

Um zu verstehen, wie Mario Draghi tickt, muss man kein Volkswirt sein, geschweige denn Bankbilanzen lesen können. Es reicht eine Rückblende ins Jahr 2005, jenes Jahr, in dem Draghi als Gouverneur an die Spitze der Banca d’Italia rückte. Im Palazzo Koch, dem Sitz der italienischen Notenbank in der Via Nazionale in Rom, stand die Zeit, wie in den unzähligen anderen Adelspalästen der Stadt, in denen sich seit Jahrhunderten nichts verändert. Mit Draghi zog die Moderne ein. Der Pomp und die Historie des Hauses interessierten den gebürtigen Römer nie. Sein Vorgänger hatte einen Kofferträger beschäftigt, Draghi entband ihn von seinen Aufgaben und trug seine Aktentasche selbst. Für sein Büro wählte er ein schlichtes, modernes Design, ein Gemälde mit den Leiden des heiligen Andreas musste weichen. Gemessen an der Schwerfälligkeit des italienischen Bankenadels sind solche Maßnahmen nichts anderes als Exorzismus. Aber Draghi hatte da erst begonnen. Die größten Veränderungen musste der träge Organismus der Notenbank verdauen. Leitende Mitarbeiter bekamen Blackberrys, alle Computer erhielten einen Internetzugang. Noch heute halten die Mitarbeiter der Bank diesen, schon damals lange überfälligen

Schritt für eine Revolution. Als Draghi für sich selbst einen Laptop forderte, stellte sich die Technikabteilung quer. Ein tragbarer Computer, wozu das denn? Der Gouverneur verlor nicht etwa die Fassung. Er rief seinen Sohn Giacomo an und trug ihm auf, einen Laptop für Papà zu besorgen. Typisch Mario Draghi: Er sucht selten die direkte Konfrontation, sondern umgeht Hindernisse oder Kontrahenten, die sich ihm in den Weg stellen, lieber. Die anderen lässt er so einfach stehen. „Er ist ein ­Meister darin, Mehrheiten zu organisieren und gleichzeitig seine Gegner zu isolieren“, sagt ein Notenbanker, der ­seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Vor zwei Jahren hat der 66 Jahre alte Draghi die Nachfolge des Franzosen Jean-Claude Trichet als Präsident der Europäischen Zentralbank angetreten. In der Krise um den Euro ist Draghi zum mächtigsten Mann Europas aufgestiegen, das Wirtschaftsmagazin Forbes hat ihn kürzlich auf Platz 9 der einflussreichsten Menschen…

Christ&Welt/Die ZEIT, 3.12.2015 Carlo Petrini glaubt nicht an Gott, aber er verehrt Franziskus. Der Gründer der Slow-Food-Bewegung sieht in dem Papst den Retter der Welt. Ein Gespräch über Gleichgültigkeit und Revolution.

Slow Food statt Fast Food. Das ist die Devise des Italieners Carlo Petrini (66), Gründer der internationalen Slow-Food-Bewegung mit heute weltweit 150 000 Mitgliedern. Petrini gilt als Vater der Öko-Gastronomie, seine 1989 gegründete Bewegung tritt für nachhaltige Ernährung und Förderung regionaler Produkte ein. Er entstammt einem katholisch-kommunistischen Haushalt im Piemont. Früher arbeitete Petrini als Gastronomiekritiker für die kommunistische Tageszeitung »Il Manifesto«. Er schrieb das Vorwort zur italienischen Ausgabe der Enzyklika »Laudato si«. Christ und Welt: Sie bezeichnen sich selbst als Agnostiker, haben aber das Vorwort zur Enzyklika »Laudato si« von Papst Franziskus verfasst. Wie kam es dazu? Carlo Petrini: Ein renommierter katholischer Verlag, die Edizioni Paoline, hat sich kurz vor Veröffentlichung der Enzyklika im Mai 2015 an mich gewandt und mich um ein Vorwort gebeten. Ich hatte 24 Stunden Zeit, um zu schreiben. Ich habe keine Ahnung von Theologie und bin nicht gläubig. Insofern war das schon gewagt. Aber dann haben mich die Worte des Papstes in ihrer Radikalität ergriffen. An einem Tag und in einer Nacht habe ich die

Einleitung geschrieben. C+W: Waren Sie mit dem Papst zuvor in Kontakt? Petrini: Er hat mich im Oktober 2013 zum ersten Mal angerufen. Ich hatte ihm zuvor ein Buch über unsere Initiative Terra Madre zukommen lassen, unser Netzwerk aus kleinen Bauern, Fischern und Landwirten in 160 Ländern, die sich für Nachhaltigkeit und den Erhalt der Artenvielfalt stark macht. In seinem Brief schreibt er bereits davon, dass die Schöpfung bewahrt werden muss. Der Entwurf seiner Idee einer integralen Ökologie war für mich damals schon sichtbar. C+W: Wie würden Sie Ihr Verhältnis zur katholischen Kirche beschreiben? Petrini: Ich bin getauft, wie alle Italiener. Ich komme aus der Provinz und habe mich als Jugendlicher auch am katholischen Leben beteiligt. Mein Vater war Kommunist, meine Mutter Katholikin. Weil meine Mutter sich durchsetzte, ging ich auf eine katholische Schule. 1968 habe ich dann die Arbeiterwelt kennengelernt und den Kommunismus. Diese Mischung aus Katholiken, die die Kommunisten wählen, ist eine ziemlich italienische Angelegenheit.…

Cicero, 29.10.2013 Papst Franziskus ist dabei, der katholischen Kirche ein menschliches Gesicht zu geben und hat so eine neue Begeisterung ausgelöst. Gläubige aller Religionen wie auch Atheisten fühlen sich von ihm angesprochen. Wie erklärt sich die Strahlkraft dieses Kirchenoberhaupts?

Sie ist schwarz, abgegriffen und unscheinbar. Aber die lederne Aktentasche ist wieder einer dieser kleinen Gegenstände, mit denen er Großes sagen möchte, mit denen er Wirkung erzeugen will: Papst Franziskus, Meister des Details. Natürlich trägt er die Tasche selbst, auch auf seiner ersten Auslandsreise zum Weltjugendtag nach Rio de Janerio. Den Berichterstattern, die ihn begleiten, entgeht sie nicht. Als er auf dem Rückflug spontan eine Pressekonferenz gibt, ist deshalb auch sein Handgepäck Thema. Die Schlüssel für die Atombombe seien nicht drin, scherzt Franziskus. Stattdessen: „Ein Rasierer, das Brevier (ein Buch mit Stundengebeten), mein Kalender, ein Buch zum Lesen, ich habe eines über die Heilige Thérèse mitgenommen, die ich verehre. Ich habe diese Tasche immer auf Reisen dabeigehabt, das ist normal.“ Der Papst macht eine kurze Pause. „Wir müssen normal sein.“ Suche nach der Normalität Damit meint Franziskus vor allem den Klerus und die Kurie, den Verwaltungsapparat des Vatikans. Normalität sucht man hier seit einiger Zeit vergeblich. Erstmals in der Neuzeit ist ein Papst zurückgetreten, Benedikt XVI. war schon lange nicht mehr Herr

im eigenen Haus. Er ließ sich auf einen Streit mit den Traditionalisten der Piusbruderschaft ein. Nicht nur Pädophilie-Skandale erschütterten die Kirche, sondern auch die Vatileaks-Affäre um gestohlene Geheimdokumente und den untreu gewordenen Papst-Butler Paolo Gabriele, Gerüchte um eine Homosexuellen-Lobby im Vatikan, Geldwäsche in der Vatikanbank. Von ihrer Aufgabe, der Verkündigung des Evangeliums, wirkte die Kirche Lichtjahre entfernt. Zeitweise glich der Vatikan einem zwielichtigen Unternehmen, in dem jeder machte, was er wollte. Seit Franziskus im Amt ist, sind die meisten dieser Probleme nicht verschwunden. Aber sie erscheinen jetzt in einem anderen Licht. Wer spricht noch von Vatileaks? Wohin haben sich die von der italienischen Presse „Raben“ getauften, anonymen Informanten verkrochen, die der Presse Geheimakten zusteckten? Vom Außenseiter zum Hirten von 1,2 Milliarden Katholiken Franziskus ist der erste Jesuit auf dem Stuhl Petri, der erste Papst aus Lateinamerika, er kommt „vom Ende der Welt“, wie er selbst am Abend seiner Wahl…

Süddeutsche Zeitung, 20.8.2013 Die kalabrische ’Ndrangheta vererbt ihren kriminellen Code über Generationen in den Familien weiter. Ein Richter will diesen Automatismus nun durchbrechen: Er nimmt den mafiösen Clans die Kinder weg.

Ein Vater holt seinen Sohn von der Schule ab. Dort war von der Mafia die Rede, jetzt bekommt der Kleine eine Lektion, die er für sein Leben nicht vergessen soll. „Hör mir gut zu, mein Sohn“, sagt der Vater. „Die Familie wendet sich nicht an das Gesetz. Sie sorgt selbst für Gerechtigkeit. Wenn dir jemand Unrecht getan hat, gehe ich nicht zur Polizei. Ich bringe ihn um.“ Dieses Gespräch haben italienische Staatsanwälte 2001 abgehört. Sie waren damals einem Boss der kalabrischen ’Ndrangheta auf der Spur. Die süditalienische Mafiaorganisation gilt als eine der mächtigsten kriminellen Vereinigungen der Welt. Sie ist eine der skrupellosesten Banden, spezialisiert auf den Handel mit Kokain und Waffen. 2008 wurde ihr Jahresumsatz auf 44 Milliarden Euro geschätzt. Die Familienbande unter Mitgliedern der ’Ndrangheta sind besonders eng. Für Ermittler ist es schwierig, die von Generation zu Generation weitervererbte kriminelle Tradition zu durchbrechen. Justiz-Kollaborateure gibt es in Kalabrien so gut wie nicht, im Gegensatz zu Sizilien oder Kampanien, wo die Ermittler auf die Mitarbeit ehemaliger

Mafiosi bauen können. Wie ein Naturgesetz wird der kriminelle Code über Generationen weitergegeben. Roberto Di Bella will diesen Automatismus durchbrechen. Der Sizilianer ist Präsident des Jugendgerichts in der Regionalhauptstadt Reggio Calabria, deren Stadtverwaltung vor einem Jahr vom italienischen Innenministerium aufgelöst wurde, weil sie von der ’Ndrangheta infiltriert war. Di Bellas Idee ist, die Kinder von Mafiosi, die den kriminellen Kurs ihrer Verwandtschaft einschlagen, ihren Familien zu entziehen. „Wir wollten den Zyklus durchbrechen, in dem negative kulturelle Werte vom Vater auf den Sohn weitergegeben werden“, sagte er in einem Interview. In mehr als 15 Fällen erließen er und seine Kollegin Francesca Di Landro entsprechende Verfügungen, die Jugendlichen standen wegen kleinerer Delikte vor Gericht. Das Gericht entschied: Die ’Ndrangheta-Bosse verlieren ihre Erziehungsberechtigung, ihre Kinder – meist handelt es sich um die männlichen Nachkommen – werden sozialen Einrichtungen fern ihrer Heimatregion anvertraut. Eklatant ist etwa der Fall eines 16 Jahre alten Sprösslings aus einem der einflussreichsten Clans…