Das Südtiroler Gleichgewicht

Augsburger Allgemeine, 21.12.2017 - Warum österreichische Pässe südlich des Brenners destabilisierende Wirkung hätten.

Es ist bald 100 Jahre her, dass das Königreich Italien zum Ende des Ersten Weltkriegs das Gebiet südlich des Brenners annektierte und es dem in Auflösung begriffenen Österreich-Ungarn abnahm. Seither ist Südtirol italienisch, es hat lange gedauert bis sich dieses Gefälle in Gefallen aufgelöst hat. Die autonome Provinz Trentino-Alto Adige gilt heute als Modell dafür, wie ein staatlicher Konflikt mit schlimmen Folgen für die Bevölkerung letztlich doch beigelegt werden kann. Dieser Prozess hat über 70 Jahre gedauert und ist noch nicht abgeschlossen. Immer wieder lodern Spannungen auf, die ihren Ursprung in der Vergangenheit haben. Wenn nun die neue österreichische Regierung aus ÖVP und FPÖ den deutsch- und ladinischsprachigen Südtirolern anbietet, sie könnten den österreichischen Pass beantragen, stellt sich folgende Frage: Trägt diese Maßnahme zur Heilung alter Wunden bei oder reißt sie Narben unnötig wieder auf?

Nationalismus ist der letzte Schrei auf dem Markt der politischen Offerten. Zu beobachten ist das von den USA bis Katalonien, von Großbritannien bis zum Balkan. Österreich mit seiner rechtskonservativen Regierung liegt da ganz im Trend und handelt einem bekannten Muster zufolge, demnach untergegangene Weltreiche ihrem Phantomschmerz mit nationalistischen Handgriffen beizukommen versuchen. Als Viktor Orban 2010 Ministerpräsident von Ungarn wurde, war eine der ersten Maßnahme seiner Regierung, der ungarischen Minderheit in der Slowakei die Staatsbürgerschaft anzutragen. Das war eine sehr späte Reaktion auf den Zerfall Österreich-Ungarns. Die Slowakei fühlte sich verständlicherweise in ihrer Souveränität verletzt und protestierte, die bilateralen Beziehungen erreichten ihren Tiefpunkt. Ein anderer Spezialist der Spannung, Wladimir Putin, hält den Zerfall der Sowjetunion für das größte Unglück des vergangenen Jahrhunderts. Russischsprachigen Minderheiten in den ehemaligen Sowjetrepubliken die Staatsangehörigkeit anzubieten, ist eines seiner Mittel zur Destabilisierung der Nachbarländer Russlands.

Selbst Italien gestand 2006 der italienischen Minderheit im kroatischen Istrien die Staatsbürgerschaft zu. Dabei handelte es sich allerdings nur um wenige Menschen. In Südtirol richtet sich das bislang noch nicht konkretisierte Angebot der österreichischen Regierung an 350 000 Menschen und damit an Zweidrittel der Bevölkerung. Hinter der Maßnahme steckt Spannung, nicht Entspannung. Das ist an der Reaktion italienischer Politiker zu erkennen, von denen viele harsch und ablehnend reagieren. Weil er weiß, dass er den Bogen überspannt hatte, ruderte Österreichs Kanzler Sebastian Kurz nach der ersten Kabinettssitzung sogleich zurück und versicherte, man werde den Plan nur gemeinsam mit der Regierung in Rom voranbringen. Aus heutiger Sicht ist dieser Versuch zum Scheitern verurteilt. Denn selbst wenn dem Angebot der Österreicher berechtigte Motive wie Gerechtigkeit oder Pflege eines Zugehörigkeitsgefühls zugrunde lägen, muss Italien die vom Nachbarstaat unilateral angebotene doppelte Staatsbürgerschaft als Sabotage seiner staatlichen Souveränität auffassen.

Der italienisch-österreichische Doppelpass trägt zur Destabilisierung bei. Es ist eine Illusion, wenn man glaubt, Unrecht von vor 100 Jahren könne mit einem solchen Zugeständnis ein Stück weit beseitigt werden. Vermutlich ist das auch gar nicht das Ziel der Regierung in Wien, die behauptet, nur einen Wunsch aller politischer Parteien in Südtirol zu erfüllen. Im insgesamt erfolgreichen, aber immer noch brüchigen Südtiroler Gleichgewicht steht der Doppelpass für ganz andere Botschaften. Er befriedet nicht den inneren Konflikt, sondern befeuert eine separatistische Sehnsucht wie sie sich früher auch in anderen Formen Bahn gebrochen hat. Nimmt man die Methoden in den Blick, die Italien in Südtirol angewendet hat, kann man sich darüber auch kaum wundern. Der Annexion folgten während des Faschismus die brutale Zwangs-Italianisierung und 1939 die traumatische „Option“ für die Bewohner, ins Deutsche Reich überzusiedeln. Erst 1988 zündeten rechtsnationale Südtiroler „Freiheitskämpfer“ ihre letzte Bombe, es war der bislang letzte untaugliche Versuch, die Zugehörigkeit Südtirols zu Italien zu sabotieren.

Heute ist es mithilfe politischer Kompromisse und dem Autonomiestatut von 1972 weitgehend gelungen, das Unrecht in eine zivile Koexistenz umzuwandeln. Trotz aller immer wieder aufkommenden Spannungen ist der Minderheitenschutz in Südtirol beispielhaft, Trentino-Alto Adige ist nicht nur ein beliebtes Ferienziel, sondern auch die wohlhabendste Region Italiens. Das früher weit verbreitete Gefühl der Staatenlosigkeit hat sich bei vielen Südtirolern in ein selbstverständliches Zugehörigkeitsgefühl verwandelt. Der österreichisch-italienisch Doppelpass reißt alte Gräben wieder auf.

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