Auf der Suche nach den verlorenen Bäumen

Tageswoche 16.10.2016 - In den Hügeln Umbriens hat die Frucht-Archäologin Isabella Dalla Ragione ein einzigartiges Biotop geschaffen. Sie sucht in Vergessenheit geratene Obstsorten, um die ökologische Vielfalt zu bewahren und lässt sich dabei von Renaissance-Gemälden und Hollywood-Stars helfen.

Der Feldweg schlängelt sich bergauf in den Wald. Nach ein paar Metern mahnt ein selbst gemaltes Schild den Ankömmling zur Umsicht mit herumlaufenden Hühnern. „Jagdverbot“, liest man gleich danach auf einem anderen. Zeichen natürlicher Vorherrschaft. Dann lichtet sich der Wald, ein weiter Blick tut sich auf: Ein kleines Tal in den grünen Hügeln Umbriens, ein mit unzähligen Obstbäumen und Weinreben gefüllter Hang. Links die verwunschene Einsiedelei San Lorenzo dei Lerchi und wo das Auge hinreicht duftende Äpfel.

Es ist still, der Wind weht in den herbstlich gefärbten Blättern. Dann rauscht die silberhaarige Patronin über diesen paradiesischen, zwischen Florenz und Perugia gelegenen Flecken im Auto heran. Hier im oberen Tibertal regiert die Langsamkeit. Und doch ist Tempo für Isabella Dalla Ragione ein entscheidender Faktor. „Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit“, sagt sie und meint damit weniger den anstrengenden Alltag zwischen Bäumen, Früchten, Ernte und allerlei Anfragen, sondern ihr Lebenswerk, die Suche nach verlorenen Früchten.

„Obst-Jägerin“ wurde die 59-Jährige schon genannt, im 2013 auf der Berlinale präsentierten Dokumentar-Film „The Fruit Hunters“ ist sie eine der Protagonistinnen. Die gelernte Agrarwissenschaftlerin empfindet sich jedoch weniger als Jägerin, das kriegerische Element des Terminus behagt ihr nicht, genauso wenig wie das Etikett der Sammlerin. „Mit Panini-Album hat das hier gar nichts zu tun“, sagt Dalla Ragione. Sie bezeichnet sich als Archäologin, als jemanden, der nach den Ursprüngen forscht, um die Gegenwart zu verstehen. „Archeologia arborea“, Baum-Archäologie, hat sie das hier von ihrem Vater Livio in den 1960er Jahren gegründete Reservat von verloren geglaubten Obstbäumen in den umbrischen Hügeln genannt.

Es geht ihr darum, das vergessene Obst aus der Versenkung zu holen, solange es noch möglich ist. 500 Bäume und 160 verschiedene Arten sind in San Lorenzo inzwischen versammelt und damit vorerst gerettet. 40 Apfelsorten, 30 Birnensorten, dazu ein Dutzend Kirschsorten, verschiedene Feigen, Mandeln, Pflaumen, Quitten und Mispeln. Alle waren einst in der Umgebung verbreitet, einer alten Pilgergegend zwischen Florenz, Rimini, Assisi und Rom, einer Umgebung regen Austauschs und deshalb von größter Artenvielfalt.

Viele der Sorten gibt es heute nur noch hier, in ihrem vier Hektar großen Obstgarten. Die Welt soll so schöne und beinahe exotische, aber doch ausgesprochen einheimische und nützliche Früchte wie die Florentiner Birne, die in der Renaissance bei keinem Winterschmaus des Adels fehlen durfte, einfach nicht vergessen. „Sie wurde gebraten, roh schmeckt sie scheußlich!“, sagt Dalla Ragione.

Oder den nach dem wichtigsten Bauerngehilfen benannten Ochsenmaul-Apfel oder den Eselshintern-Apfel, der wie der Name es schon sagt, dem Hinterteil des Esels gleicht oder den besonders haltbaren Rostapfel. „Er war einfach perfekt für seine Zeit“, schwärmt sie.

Die Gefahr des Vergessens besteht jedoch durchaus, wenn im Supermarkt vor allem Einheitsware verkauft wird. Drei Sorten, Golden Delicious, Stark und Rome Beauty machten 70 Prozent des italienischen Marktes aus, bei den Birnen sei es ähnlich, klagt Dalla Ragione. Der Obstgarten von San Lorenzo ist der Gegenentwurf. Ein Ort der Vielfalt, der Verschiedenheit, der Obst-Pluralität, ein Kontrapunkt zum Lebensmittel-Mainstream, zu Monokultur und auch zu umstrittenen Mega-Fusionen wie der des Chemie- und Düngemittelkonzerns Bayer mit dem Saatguthersteller Monsanto. „Wir dürfen nicht zulassen, dass die Diversität, die über Jahrhunderte gegeben war, einfach verschwindet“, sagt Dalla Ragione.

Allein im Hinblick auf die Lebensmittelsicherheit ist die Bewahrung der Verschiedenheit für die Baum-Archäologin ein Gebot. Was ist, wenn sich wie bei den Bananen ein Pilz in die Monokultur einnistet? Der Frucht droht das Ende. Nur leider ist das Bemühen Dalla Ragiones ein Kampf mit ungleichen Mitteln. Während die Lebensmittelindustrie ungehindert die Bedürfnisse der Konsumenten nach perfekt geformten, in erster Linie knackigen, wurmlosen und deshalb vielfach behandelten Äpfeln stillt, steigt Isabella Dalla Ragione wie eine Privatdetektivin und nur mit einer Veredelungsschere bewaffnet durch die Hügel Umbriens auf der Suche nach den Ursprüngen.

„Das Schlimme ist, oft kommen wir zu spät“, sagt sie. Das „wir“ ist eine Reminiszenz an ihren Vater Livio, der 2007 im Alter von 85 Jahren starb. Er kaufte 1963 das mittelalterliche Pfarrhaus samt Kirche, auf dem noch ein paar Jahrzehnte zuvor ein Pfarrer und ein Bauer gemeinsam lebten. Es war die Zeit, in der die Bauern ihre Höfe verließen und dem Landleben einen festen Job in der Fabrik vorzogen. Industrialisierung, Wirtschaftsboom und Landflucht prägten die Zeit, aber der ehemalige Partisanen-Führer Livio Dalla Ragione siedelte sich in der Einsamkeit an und wurde deshalb zu seiner Zeit für verrückt gehalten.

Das verlassene und verwunschene Pfarrhaus füllte der Vater mit überflüssig gewordenen Gegenständen, mit Töpfen, Scheren, Messer, Werkzeug, altem Krempel, das er wie in einer Puppenstube anordnete. Die Zimmer in San Lorenzo, der Kamin, die Gewehre an der Wand, der Wein, die in der Küchendecke aufgehängten Weintrauben, die alte Kapelle, die nun als Apfellager dient – man hat das Gefühl, in eine vergangene Epoche einzutauchen. Während die Masse auf funktionale, moderne Inneneinrichtung setzte, erkannte Dalla Ragione in altertümlichen Bräuchen, Gegenständen und Geschichten ein Potential, das den anderen nur Zeugnis für Armut war.

So ähnlich verhielt es sich auch mit den Obstbäumen. Weil sie den aufkommenden Landmaschinen im Weg standen, wurden sie oft kurzerhand gefällt. Diese Entwicklung zur rentableren, großflächigen Landwirtschaft hatte zur Folge, dass die Multikultur sich langsam in Richtung Monokultur bewegte. Die Obstbäume verschwanden und mit ihnen die verschiedenen Sorten. „Also galt es, nicht nur Objekte zu sammeln, sondern Geschichten, Geschmäcker, Gerüche und nicht zuletzt die Früchte“, erzählt seine Tochter.

Die kleine Isabella eilte dem Vater bei seiner Jagd nach den Trieben und den zugehörigen Geschichten durch die Hügel der Gegend nach. Heute streift die Obstarchäologin alleine durch die umbrischen Hügel, fragt bei den letzten Zeitzeugen der vom Aussterben bedrohten Sorten nach. Wie durch Zufall wies sie eine Bäuerin vor Jahren auf einen Baum der Florentiner Birne in ihrem Garten hin, der sie jahrelang in Archiven hinterher geforscht hatte. Angelo, ein Bauer aus dem nahen Città di Castello, zeigte ihr eines der letzten Exemplare des Ochsenmaul-Apfels. Sie durfte sich Sprösslinge abschneiden und setzte sie in ihrem Garten wieder ein.

Das eher instinktiven Handeln ihres Vaters reicherte Isabella Dalla Ragione mit Methode an. Die Agrarwissenschaftlerin forschte in historischen Dokumenten nach den verlorenen Früchten und zieht sogar die Kunst zu Rat. Die Stilleben der Renaissance eignen sich dazu besonders. Auf den Werken Piero della Francescas oder Pinturicchios erkannte Dalla Ragione alte, damals gebräuchliche Sorten wieder, ebenso bei Albrecht Dürer. Dessen „Madonna und Kind mit Birne“ in den Uffizien in Florenz stellt nichts weniger als einen Irrtum der Kunstgeschichte dar, denn die Apfelarchäologin ist sich sicher, dass es sich dabei nicht um eine Birne, sondern einen Ochsenmaul-Apfel handelt.

Aber für Rechthabereien hat Dalla Ragione kaum Zeit. Sie muss sich ganz alleine um den großen Obstgarten kümmern, die Bäume eigenhändig aus Zisternen wässern, Gras mähen und das Obst und die Weintrauben vom gierigen Zugriff der Rehe, Eichhörnchen, Raben und Hornissen retten. Viele Äpfel verschenkt sie, der Rest wird zu Gelee verarbeitet. Eine Vogelscheuche steht etwas unbeholfen zwischen den Bäumen auf dem Hang, unter denen Gläser mit einer Mischung aus Zucker und Essig stehen, natürliche Fallen für die Hornissen. Die Bienen in ihren acht Bienenstöcken hingegen trägt Dalla Ragione förmlich auf Händen, sie sind die eigentlichen Königinnen von San Lorenzo, weil sie mit der Bestäubung das umbrische Obst-Reservat am Leben erhalten.

Was bleibt, ist die Frage, wie es eines Tages weitergehen soll. 2014 gründete Dalla Ragione eine Stiftung mit ihr als Vorsitzender, deren Aufgabe die Wahrung der Baumsammlung ist. Bislang lebt die Stiftung alleine von Spenden, die Präsidentin hofft auf eine öffentliche Finanzierung. Dalla Ragione selbst bekommt nichts für ihre Arbeit, sie hält sich mit Agronomie-Gutachten über Wasser. Ein anderes Modell ist die Adoption von Bäumen, die in vergangenen Jahren besonders in Übersee fruchtete. Die Adoptiveltern eines Apfelbaums müssen einen Beitrag leisten und können dann etwa zur Ernte selbst nach Umbrien kommen, ein Besuch pro Jahr ist Pflicht. Der Hollywood-Schauspieler Bill Pullmann, den sie bei einem Filmfestival kennen lernte, half drei Tage mit. Gérard Depardieu, der sie in Paris zum Mittagessen einlud, adoptierte die „pera briaca“, die besoffene Birne.

Doch meist ist Dalla Ragione mit ihren Bäumen allein. Da wären noch die beiden Töchter der Baumarchäologin, die ältere studiert Agrarwissenschaften. Aber die Mutter will lieber nicht drängeln, dass sie eines Tages das Obst-Erbe übernimmt. Die Gegenwart bietet auch einfach zu viele andere drängende Gedanken. Ganz oben auf der Agenda von Isabella Dalla Ragione steht die Suche nach zwei verloren geglaubten Sorten, des „fico rondinino di San Sepolcro“, der Schwalben-Feige von San Sepolcro und der „pera carovella“, der Carovella-Birne. Sie muss jetzt schnell wieder los in die Hügel, es könnte sonst zu spät sein.

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