Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.9.2016 Der italienische Erstligist AS Rom ist immer noch vom knapp 40 Jahre alten Francesco Totti abhängig.

Es gibt Sonntage, da finden in der Serie A eher gewöhnliche Fußballspiele statt, aber das Gebrüll auf den Straßen von Rom ist dennoch unverhältnismäßig groß. Am vergangenen Wochenende war das etwa der Fall. Am dritten Spieltag traf der AS Rom auf Sampdoria Genua, eigentlich kein Spiel, vor dem die Anhänger schlaflose Nächte zubringen. Als die Partie abgepfiffen wurde, schien es sogar in unaufgeregten Vierteln der Stadt, als habe die heimische Mannschaft mindestens den FC Barcelona in einem epochalen Match besiegt. Dabei lag alles nur an ihm, Francesco Totti. Totti wird in zwei Wochen 40 Jahre alt. Im Stadio Olimpico hatte er am Sonntag mal wieder einen seiner ganz großen Auftritte. Er, der alternde Kapitän des AS Rom, den Zwölfjährige in der Hauptstadt genauso verehren wie Greise. Zur Untermalung der Unglaublichkeit des Augenblicks listete das römische Lokalblatt Il Messaggero am Dienstag die Historie der schweren Verletzungen des 1976 geborenen Stürmers auf, der nach dieser Diagnose eigentlich seit Jahren im Ruhestand sein müsste: „Zwei schwere Knieverletzungen, ein Stück Eisen seit zehn Jahren im linken Bein, elf Schrauben im linken Knöchel, Bandscheibenleiden, chronische Schmerzen in den Oberschenkeln“. Mit anderen Worten, ein physisches Wrack. Stattdessen schleppt sich

dieses lebendige Denkmal mit übernatürlich wirkender Leichtigkeit Woche für Woche von einer Heldentat zur anderen. Wäre Totti kein Fußballer, sondern Priester, hätte der Vatikan längst ausreichend viele Argumente für eine sofortige Heiligsprechung. Stattdessen erreicht die profane Totti-Verehrung in Rom ungekannte Dimensionen, die etwa in der medialen Aufmerksamkeit gemessen werden kann. Der Corriere dello Sportwidmete dem bekanntesten Fußballer der Stadt auch am Dienstag noch neun Seiten. Was war passiert? Am Sonntag lag der AS Rom zur Halbzeit gegen Genua mit 1:2 zurück. Nach einer 80-minütigen, von einem schweren Unwetter verursachten Spielpause, wechselte Trainer Luciano Spalletti zu Beginn der zweiten Halbzeit Totti ein. Und es wurde Licht. Totti verwandelte in der 93. Spielminute nicht nur den entscheidenden Foulelfmeter zum 3:2-Endstand für den AS Rom, sein 249. Treffer in der Serie A. Der Kapitän hatte zuvor auch noch die glänzende Vorlage zu Edin Dzekos 2:2-Ausgleich gegeben und drei weitere Torchancen vorbereitet. „Tottifabelhaft“,…

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. Juli 2016 Warum hat Italien die wichtigen Duelle mit Deutschland immer gewonnen? Gianni Rivera, 1970 Siegtorschütze im Jahrhundertspiel und später Europa-Parlamentarier, erklärt es im Interview.

Gianni Rivera. Hier auf einer alten Briefmarke im Dress des AC Mailand.

Gianni Rivera. Hier auf einer alten Briefmarke im Dress des AC Mailand.

Es war ein eher unspektakulärer Flachschuss, mit dem Gianni Rivera die deutsch-italienische Rivalität im Fußball begründete. Am 17. Juni 1970 erzielte der damalige Angreifer des AC Mailand in der Verlängerung des WM-Halbfinales das Tor zum 4:3-Sieg für Italien. Seither gilt Rivera als (natürlich parteiischer) Experte für deutsch-italienische Duelle. Rivera ist heute 72 Jahre alt und Funktionär beim italienischen Fußballverband. Zuvor war er als Christdemokrat EU-Parlamentarier, italienischer Abgeordneter und Staatssekretär im Verteidigungsministerium. Ihr legendärer Treffer zum 4:3 im WM-Halbfinale 1970 gegen Deutschland liegt jetzt 46 Jahre zurück und ist doch immer wieder ein Thema. Warum? Richtig verstanden habe ich das nie. Fernsehen gab es damals erst seit kurzer Zeit. Es war Sommer, viele Leute, die gar nicht so viel übrig hatten für Fußball, sahen die Partie. Das war ein kollektives Erlebnis. Außerdem ist das Spiel ständig gekippt. Erst lagen wir vorne, dann hat Karl-Heinz Schnellinger in der 90. Minute ausgeglichen. In der Verlängerung ist Deutschland mit Gerd Müller in Führung gegangen, wir haben ausgeglichen, dann hat uns Gigi Riva in Führung gebracht. Wieder

der Ausgleich durch Müller. Und dann kam ich, 111. Minute. Stimmen Sie zu, dass Ihr Treffer der Beginn der deutsch-italienischen Rivalität im Fußball war? Das kann man so sagen. Es war schon verrückt. Ihr wart damals bekannt für Kraft, Körperlichkeit und Ausdauer. Wir galten in dieser Hinsicht als unterlegen. Dass wir uns in der Verlängerung durchsetzten, war also ein doppelter Erfolg. Das Spiel wurde zum „Spiel des Jahrhunderts“, weil es immer auf und ab ging, beide Mannschaften standen kurz vor dem Sieg, dann kam das andere Team wieder zurück. Danach waren alle irgendwie aufgewühlt, nicht nur Italiener und Deutsche. Welche besonderen Erinnerungen haben Sie an damals? Das war ein ganz besonderer, emotionaler Moment. Die Leute in Italien liefen auf die Plätze und hatten erstmals seit langer Zeit wieder Grund in aller Öffentlichkeit zu feiern. Der Krieg war noch nicht lange vorbei. Auch politisch war die Zeit in Italien…

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. Juli 2016 Wie Italien mit taktischen Mitteln seine Gegner zu überlisten versucht.

Italiens Nationaltrainer Antonio Conte.

Italiens Nationaltrainer Antonio Conte.

Antonio Conte ist ein religiöser Mensch. Vor den Spielen seiner Mannschaft befolgt der italienische Nationaltrainer feste Rituale, er telefoniert mit seiner Familie im süditalienischen Lecce und betet. Während der Fastenzeit verzichtet der Katholik auf Kaffee, Süßigkeiten und Alkohol. Als Trainer von Juventus Turin hat er schon Heiligenbildchen geküsst und wie einst Giovanni Trapattoni Weihwasser verspritzt, am Handgelenk trägt er einen Rosenkranz aus dem Wallfahrtsort Medjugorje. Auf höhere Mächte will sich der 46 Jahre alte Trainer dennoch nicht ganz verlassen. Conte hat die strategische Tradition seiner Vorgänger perfektioniert. Die deutsche Nationalmannschaft wurde in der Vergangenheit schon mehrmals Opfer der taktischen Finessen der Italiener. Als Meisterwerk gilt in Italien der Schachzug im WM-Halbfinale von 2006, als Spielmacher Francesco Totti gegen sein Naturell angewiesen wurde, auf die Flügel auszuweichen und seinen Bewacher Sebastian Kehl mit sich zu ziehen. Totti nahm sich so de facto selbst aus der Partie, in der Spielmitte taten sich dadurch aber Räume auf. Die Italiener nutzten sie, gewannen 2:0 und wurden anschließend Weltmeister. Einen ähnlichen Spielzug zeigte Italien auch bei dieser

EM, er könnte die bevorzugte Waffe im Viertelfinale gegen Deutschland sein. Zwar hat Italien derzeit keinen überragenden Aufbauspieler. Conte hat deshalb seinen Stürmer Graziano Pellè als primäre Anspielstation in der Spitze bestimmt. Um Pellè direkt zu bedienen räumen die italienischen Mittelfeldspieler regelmäßig das Zentrum des Feldes frei, indem sie sich bei Ballbesitz weit vorne und oft am Rand der Außenlinie positionieren. Die gegnerische Verteidigung wird so zu Lücken gezwungen. Pellè kommt dem langen Ball aus der eigenen Abwehr entgegen, die Ballannahme ist seine Spezialität. Planmäßig legt er den Ball direkt auf seinen Sturmpartner Éder oder einen nachrückenden Spieler wie Emanuele Giaccherini ab, die in die Lücken stoßen. Éder hatte im Achtelfinale gegen Spanien auf diese Weise mehrmals freien Weg zum Tor. Diesen vertikalen Automatismus hat Conte trainiert. Italien pflegt den koordinierten Spielaufbau aus der Abwehr. Dabei ist auch Torwart Gigi Buffon entgegen anderslautender Vorurteile stark an der Zirkulation beteiligt. Weil…

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.5.2016 Der ehemalige Bayern-Stürmer Luca Toni, Liebling aller Schwiegermütter, beendet seine Karriere.

Glanzvoll ist dieses Karriereende wahrlich nicht. Hellas Verona steht als Absteiger der Serie A fest, Luca Toni war während seiner letzten Saison als Fußballer oft verletzt und erzielte gerade mal eine Handvoll Treffer. Sein Trainer Luigi Delneri vertraute ihm zuletzt auch nicht mehr richtig. „Ciao Bello!“, rief ihm eine süddeutsche Boulevardzeitung nach, als der italienische Stürmerstar im Jahr 2009 vom FC Bayern nach Italien zurückkehrte. Jetzt ist der Abschied endgültig. Luca Toni hat entschieden, dass nach dem Heimspiel mit Hellas Verona am gestrigen Sonntag gegen Serienmeister Juventus Turin Schluss ist. Man muss sich mit 38 Jahren nicht mehr alles antun, denkt sich der Weltmeister von 2006. Auch das Match am letzten Spieltag in Palermo will sich Toni sparen. Und er hat recht: Wie sehr mühen und mühten sich die anderen, alternden Stürmerhelden von Berlin mit dem Absprung zu rechten Zeit. Alessandro Del Piero wurde als Galionsfigur bei Juventus Turin vor die Türe gesetzt und der ewige Römer Francesco Totti hat sich selbst an den Rand der ultimativen Demütigung gebracht. Er würde sogar gratis

für seinen AS Rom antreten, flehte er bis vor kurzem. Irgendein römischer Fußballgott bemerkte, dass in Totti doch noch magische Kräfte schlummern und lässt ihn nun serienweise entscheidende Tore erzielen, die wohl in einen letzten Jahresvertrag münden werden. Im Gegensatz zu den Vereinsikonen aus dem italienischen WM-Team von 2006 war Toni der Tor-Vagabund, ein hochaufgeschossener Fußball-Söldner, ein manchmal schwerfällig wirkender, oft sehr effizienter Turm an der Schwelle zum modernen Geschwindigkeits-Fußball. Hübsch anzusehen sei sein Spiel bekanntlich nicht, sagte der schöne Toni über sich selbst. Die Münchner, die in ihm alle Stereotypen ihrer Italiensehnsucht wiederzuerkennen meinten, können Toni noch einmal im Juli erleben. Da soll der Prozess wegen 1,7 Millionen Euro angeblich hinterzogener Kirchensteuer während seiner Zeit beim FC Bayern beginnen. Ausgerechnet der katholische Luca, Traum aller italienischen Schwiegermütter! Toni war immer beliebt, aber als Fußballer nirgends zu Hause. Bei sechzehn Profivereinen stand der Stürmer unter Vertrag, er…