Die Zeit - Christ&Welt, 14.Juli 2021 - Beim Stauffenberg-Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 wurde der Stenograf Heinrich Berger getötet. Die Enkelin des Widerstandskämpfers begegnet der Frau, die ihren Vater verlor.

Heinrich Berger mit Dorothea Johst 1944

Heinrich Berger mit Dorothea Johst 1944

Am 20. Juli 1944 zündete Claus Schenk Graf von Stauffenberg im Führerbunker in der Wolfsschanze einen Sprengsatz, der Adolf Hitler töten sollte. Hitler überlebte, stattdessen kamen drei Wehrmachtsangehörige und der Stenograf Heinrich Berger ums Leben. Nun begegneten sich die Tochter des Stenografen, Dorothea Johst, und die Enkelin von Stauffenberg, Sophie von Bechtolsheim. Frage: Frau Bechtolsheim, Ihr Großvater hat den Putschversuch gegen Adolf Hitler nicht überlebt. Warum haben Sie den Kontakt zur Tochter des Stenografen der Wolfsschanze gesucht? Sophie von Bechtolsheim: Ich bin ehrlich gesagt gar nicht selbst auf die Idee gekommen. Eine Freundin von mir und ein Leser meines Buches über meinen Großvater haben mich unabhängig voneinander auf Frau Johst aufmerksam gemacht. Ich brauchte diese beiden Impulse, um auf sie zuzugehen. Dann habe ich ihr geschrieben. Frage: Was hat Sie da angetrieben? Von Bechtolsheim: Mit dem Tyrannenmord an Hitler und seinen Folgen hatte ich mich theoretisch beschäftigt. Das Dilemma des Tyrannenmords ist: Darf man das wirklich tun? Sich schuldig machen, um größere Katastrophen abzuwenden? In der Theorie war mir das klar, ja,

man darf. Als ich dann von Frau Johst hörte, bekam die Theorie plötzlich ein Gesicht. Die Frage stand im Raum, was das wirklich bedeutet, wenn nicht der Tyrann, sondern andere Menschen sterben, und welche Folgen das hat. Ihr Vater kam ums Leben, weil mein Großvater den Sprengsatz zündete, der für Adolf Hitler bestimmt war. Frage: Wie war das für Sie, Frau Johst? Hatten Sie Hemmungen, Kontakt mit der Enkelin des Verantwortlichen für den Tod Ihres Vaters aufzunehmen? Dorothea Johst: Nein, gar nicht. Dass jemand von der Familie Stauffenberg auf uns aufmerksam wurde, hat mich sehr berührt. Ich habe mich gefreut über den Kontakt. Mein Vater war immer eine Randfigur des 20. Juli, aber er ist an diesem Tag ums Leben gekommen. Er war kein Parteimitglied, kein Soldat. Es gab vereinzelte Zeitungsartikel, die an ihn erinnerten. Aber sonst eigentlich nichts. Frage: Warum haben Sie sich gefreut? Johst: Dass Frau Bechtolsheim den Kontakt aufgenommen…

29. Dezember 2020, Rheinische Post. Elia Minari, 28, ging mit dem Sohn eines Bosses zur Schule, in der Schülerzeitung deckte er Mafia-Geschäfte in Norditalien auf. Heute gibt er Anti-Mafia-Kurse an der Universität.

Elia Minari, Reggio Emilia.

Elia Minari, Reggio Emilia.

Elia Minari hatte mal ein Leben, in dem er sich morgens ein schlabbriges T-Shirt oder ein Polo-Hemd überstreifte. Das war zu Zeiten der Schülerzeitung Cortocircuito, zu Deutsch Kurzschluss. Schüler aus zwölf verschiedenen Schulen in der norditalienischen Kleinstadt Reggio Emilia hatten sich 2009 zusammen getan, um Artikel zu schreiben, in denen es ziemlich schnell sehr ernst wurde. Die Nachwuchs-Journalisten widmeten sich der kalabrischen Mafia, der 'Ndrangheta, als die meisten Menschen in der Region Emilia-Romagna deren Präsenz in der eigenen Umgebung noch für reine Phantasie hielten. Die Schüler unter der Führung von Minari waren so engagiert und genau, dass ihre Nachforschungen bald auch für die Staatsanwaltschaft interessant wurden. Da war zum Beispiel die Sache mit der Disko Italghisa, in der die Schule ihre Feste feierte und über deren Betreiber wilde Gerüchte kursierten. Elia und seine Freunde begannen zu recherchieren. Minari warf einen Blick in das Register der örtlichen Handelskammer, gab die Namen der Eigentümer bei Google ein und stellte bei der Lektüre eines Dokuments der Staatsanwaltschaft fest, dass die kalabrische 'Ndrangheta

in dieser unscheinbaren Disko in Norditalien Geldwäsche betrieb. „So fing alles an“, sagt Minari bei einem Glas Wasser in einer Kneipe in Reggio Emilia. Der 28-Jährige trägt inzwischen blaues Jackett, hellblaues Hemd und blaue Krawatte. Cortocircuito gibt es immer noch, die Mafia auch. Die unbeschwerten Schülerzeitungs-Tage sind hingegen schon lange vorbei. „Die 'Ndrangheta breitet sich immer mehr in der Emilia-Romagna, in der Lombardei, im Piemont und im Veneto aus, aber viel zu oft gibt es Menschen, die wegsehen“, stellte Franco Roberti, ehemaliger Chef der nationalen Antimafiabehörde fest. Auch die Presse hielt den Alarm für übertrieben. Elia Minari und seine Mitstreiter stellten aus Neugier und einem Gefühl der Beunruhigung die Fragen, die damals noch niemand stellen wollte. Don Camillo und Peppone Als die Staatsanwaltschaft Bologna 2016 über 200 Angeklagte im Aemilia-Prozess, dem größten Mafia-Prozess aller Zeiten in Norditalien vor Gericht brachte, hatten die Schüler von Cortocircuito viele ihre eigenen Nachforschungen in Sachen…

11. Dezember 2020 FAZ. Zum Tode der italienischen Fußball-Legende Paolo Rossi.

„Ohne Schatten gibt es kein Licht; man muss auch die Nacht kennen lernen“, hat Albert Camus geschrieben. Auf wenige Sportler trifft diese Weisheit so zu wie auf den italienischen Fußballer Paolo Rossi, der in der Nacht vom Mittwoch auf Donnerstag im Alter von 64 Jahren gestorben ist. Rossi ist in Italien das, was man eine Fußball-Legende nennt, entsprechend dramatisch waren auch die Reaktionen am Donnerstag. „Der Fußball und Italien weinen um das Symbol der Nationalmannschaft von 1982“, schrieb die Gazzetta dello Sport, der Corriere dello Sport wähnte gar „den ganzen Fußball in Trauer“. Das italienische Staatsradio brachte den auffällig unaufgeregten Original-Kommentar des Endspiels der WM 1982 in Spanien, als Italien mit Rossi zum dritten Mal Weltmeister wurde. Selbst die Abgeordneten im römischen Parlament widmeten dem Idol nach der Todesnachricht stehenden Applaus und eine Gedenkminute. Rossi, der italienische Allerweltsnachname, Paolo einer der weit verbreiteten Vornamen im Land. Der Mann aus Prato in der Toskana war ein Durchschnittsbürger, aber eben auch ein begnadeter, wendiger Stürmer. Eher schmächtig, weshalb ihm seit seinen Auftritten bei der WM 1978 in Argentinien der hispanisierte Kosename Pablito angedichtet wurde. Viele Italiener verehrten den

sechsfachen Torschützen aber vor allem nach der WM 1982. Bei der erzielte er drei sagenhafte Tore gegen den Turnierfavoriten Brasilien, zwei gegen Polen und eines beim 3:1 im Finale gegen Deutschland, Rossi wurde Torschützenkönig und schließlich sogar zu Europas Fußballer des Jahres gewählt. Das 3:2 in der Zwischenrunde gegen Brasilien war so etwas wie Rossis Spiel des Lebens. „Für mich war das der Moment meiner Wiedergeburt, als ob mich jemand da oben wirklich gesehen hätte“, erzählte er einmal mit typisch toskanischem Akzent und Sinn fürs Jenseits. „Ich galt als Flasche und war auf einmal der Allergrößte und das innerhalb von nicht einmal 90 Minuten.“  In Spanien machte sich Rossi für seine Landsleute unsterblich. Der Sport, aber auch nachsichtige Wankelmütigkeit hatten gezeigt, wie schnell ein Phönix aus der Asche steigen kann, wenn man ihm die Gelegenheit dazu bietet. Rossis Leben veränderte sich nach der WM schlagartig. Dabei hatte Nationaltrainer…

4. November 2019 - Elvio Fassone verurteilt einen Mafioso zu lebenslanger Haft. Er zweifelt nicht an seinem Urteil. Aber er grübelt, wie es so weit kommen konnte. Er schreibt ihm einen Brief. Der Mafioso antwortet. 31 Jahre ist das her. Und sie schreiben sich immer noch.

Es gibt Geschichten, die von Gerechtigkeit handeln und etwas komplizierter sind. Elvio Fassones Geschichte zum Beispiel. Fassone ist heute 81 Jahre alt, er war Senator im italienischen Parlament, zuvor Richter am Obersten Gerichtshof Italiens und Strafrichter. 1988, im Alter von 50 Jahren, war der Jurist aus dem Piemont Vorsitzender in einem großen Mafia-Prozess in Turin. 242 Sizilianer eines Clans aus Catania waren angeklagt, es ging um Mord und Erpressung, das Verfahren kam nur mühsam voran, weil Anwälte und Angeklagte alles versuchten, um den Prozess zu behindern. Dem vorsitzenden Richter Fassone kam damals ein Einfall, der sein Leben verändern sollte. Er gab bekannt, dass er nach Verhandlungsschluss immer noch eine Weile im Gerichtssaal warten würde und bereit sei für Anfragen persönlicher Art. Das Klima im Gerichtssaal änderte sich. Die Gefangenen in Untersuchungshaft konnten sich noch im Gericht an den Richterwenden und ihre Bitten vortragen: die Bitte um Ermöglichung eines Zahnarzttermins in der Untersuchungshaft oder um einen wichtigen Familienbesuch im Gefängnis. Der Prozess dauerte mehr als zwei Jahre.

Der Richter, Exponent eines Staates, den die Mafia als Feind wahrnimmt, hatte plötzlich ein menschlicheres Antlitz. So kam es auch, dass einer der Hauptangeklagten sich nach Verhandlungsschluss an Fassone wendete mit folgenden Worten: Den Richter beschleichen Zweifel: Ist das Gerechtigkeit? Herr Richter, haben Sie einen Sohn?“, fragte der 27-jährige Boss, dem hier der Name Salvatore gegeben werden soll. „Ich habe drei Söhne“, antwortete Fassone, „der Älteste ist so alt wie Sie“. Salvatore entgegnete: „Wenn Ihr Sohn dort aufgewachsen wäre, wo ich herkomme, dann säße nun er hier und ich wäre an seiner Stelle.“ Der Richter entgegnete, was ein Richter in dieser Situation sagen muss. Dass jeder Mensch letztlich selbst mitentscheiden kann, ob er auf die rechte oder die schiefe Bahn gerät. Dass Herkunft zwar ein wichtiger, aber nicht alles entscheidender Faktor ist. Am Ende des Prozesses verurteilten Fassone und seine Kollegen 20 Mafiabosse, die zahlreiche Morde zu verantworten hatten, zu lebenslanger Haft. Salvatore, einer…