„Es gibt ein Momentum“

August 2020, Cicero. Seit Jahren kann sich die EU nicht auf ein neues Asylrecht einigen. Innenminister Horst Seehofer nimmt nun noch einmal einen neuen Anlauf. Ein Kompromiss scheint in Reichweite.

Damian Boeselager ist seit vergangenem Sommer Mitglied des EU-Parlaments. Der 32-Jährige ist einer der jüngsten Politiker in Straßburg, man könnte ihn als Idealisten bezeichnen. Er war einer der Gründer der jungen transnationalen Bürgerbewegung Volt, deren Ziel es ist, über Ländergrenzen hinweg europäische Politik zu machen. Europa, das ist für Boeselager so etwas wie eine Lebenseinstellung.

Boeselager ist der einzige deutsche Volt-Abgeordnete, er versteht sich als konservativ, seine Bewegung hat sich der Grünenfraktion in Straßburg angeschlossen. Ein Sohn Europas, der eine ganze Generation von jungen Bürgern vertreten möchte, für die das grenzenlose Europa eine selbstverständliche Grundbedingung ihrer Existenz ist. Vor Monaten war Boeselager auf der griechischen Insel Lesbos zu Besuch, im Flüchtlingslager Moria.

„Das war surreal“, erzählt Boeselager. Auf der einen Seite die griechisch-europäische Normalität auf Lesbos, Eisdielen, Ferienstimmung. „Und dann zwei Schritte weiter im Flüchtlingslager Menschen, die auf dem Boden hungern.“ Mehr als 20 000 Menschen sind in Moria unter menschenunwürdigen Bedingungen eingepfercht, sie leben in Staub oder Schlamm, je nach Wetter und in notdürftigen Hütten wie in einem Slum. Wie kann man in so einer Situation stolz sein, ein Europäer zu sein oder noch schlimmer, ein europäischer Volksvertreter, fragte sich der 32-Jährige? Banden sind in Moria aktiv, laut „Ärzte ohne Grenzen“ begehen Flüchtlinge immer wieder Suizidversuche, darunter auch Kinder.

„Der Kontinent, der Weltmarktführer in Digitaltechnik werden will, lässt gerade einmal fünf Stunden von Brüssel entfernt Menschen verhungern und sterben“, so hat der Jung-Politiker in einem Bericht für die Zeitung The Guardian über seinen Besuch geschrieben. Er habe sich hilflos gefühlt, als die Lagerinsassen ihn danach fragten, was Europa mit ihnen vorhat. „Sie fragten mich im Namen des Jungen, der eine Woche zuvor an Fieber gestorben war, sie fragten mich im Namen der 1200 unbegleiteten Minderjährigen, die unter den Olivenbäumen im Freien schlafen.“

Boeselager begann ein Referat über das Funktionieren der europäischen Institutionen, wie die EU-Kommission funktioniert, das Parlament, die Mitgliedsstaaten. Es war der hilflose Versuch, denen Europa zu erklären, die die Uneinigkeit des Kontinents am eigenen Leib zu spüren bekommen. Es war der Moment, in dem der junge EU-Innenpolitiker aus Frankfurt merkte: Europa hat im Grunde keine Antwort für Menschen, die in die EU wollen.

„Wir sagen ja zum Asyl, aber machen nein“, sagt Boeselager. Es sei das erste Mal gewesen, dass er sich wirklich schämte, Europäer zu sein. Was also ist der Plan, Europa?

Was ist seit 2015 passiert?

Seit fünf Jahren, seit dem Sommer 2015, als hunderttausende Menschen über Griechenland in die EU aufbrachen und sich der Kontinent anschließend mit dem Erstarken der Rechtspopulisten auch politisch veränderte, hallt diese Frage durch die Gänge der EU-Behörden in Brüssel und durch die Regierungsflure in den Mitgliedstaaten. Bislang ohne Antwort. Die frühere EU-Kommission unter Jean-Claude Juncker scheiterte an einer Einigung. Die Asylpolitik war der Aufreger der vergangenen Jahre, die meisten Regierungen kochten ihr eigenes Süppchen.

Einen gemeinsamen Plan, wie die 27 Mitgliedstaaten mit Asylbewerbern umgehen wollen, gibt es bis heute nicht. „Beschämend“ nennt das der deutsche Innenminister Horst Seehofer.

Immer noch gilt: Asylbewerber können nur in dem Staat einen Antrag auf Asyl stellen, in dem sie erstmals die EU betreten haben. Die sogenannte Dublin-Regel gilt seit 17 Jahren und geht längst an der Realität vorbei, da sind sich fast alle EU-Mitgliedstaaten einig. Mittelmeerländer wie Griechenland, Italien, Spanien, Malta oder Zypern tragen die Hauptlast, wenn die anderen Staaten nicht freiwillig aushelfen. Deshalb ist das Lager Moria so voll.

Bislang blockieren Staaten wie Ungarn, Polen, Tschechien, die Slowakei aber auch Österreich eine Neuregelung für eine gerechte Verteilung. Immigration ist in den sogenannten Visegrád-Staaten auch bei der Bevölkerung nicht gewünscht. Seit Juli hat Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft inne. Ein neuer Anlauf für die Reform des Asylrechts soll gewagt werden. Der deutsche Innenminister spricht von einem „sehr sehr dicken Brett“, das da zu bohren sei. 27 Mitgliedsstaaten, 27 Einzelinteressen, zunehmend weniger Akzeptanz für Zuwanderer, rechtspopulistische Scharfmacher, fast überall. Wie soll das gelingen?

Seehofers Mission 

Seehofer hat klar gemacht, dass er nach dem Sommer seine ganze Kraft einem Kompromiss bei den Fragen Asyl und Migration widmen will. Das mag Rhetorik sein, doch der Innenminister plant bereits eine neue Arbeitsverteilung im Ministerium. Seine Staatssekretäre sollen ab Herbst die alltäglichen Amtsgeschäfte in Berlin „verstärkt selbst in die Hand nehmen“, kündigte der 71-Jährige CSU-Politiker an. „Bei mir ist nochmal ein richtiges Feuer heute entzündet worden“, sagte der Innenminister nach einem ersten informellen Video-Austausch der EU-Innenminister Anfang Juli.

Seehofer meint es offenbar ernst. Er wolle sich „mit allem, was ich zur Verfügung habe“ der Migrationsfrage auf EU-Ebene widmen. Seehofer will das Thema Asyl höchstpersönlich voranbringen, er will zu Gesprächen in die Mitgliedsstaaten reisen und Kompromisse aushandeln. Es gibt Akteure in Brüssel und Berlin, die Seehofer hier in einer ganz persönlichen Mission unterwegs sehen.

Im Flüchtlingssommer 2015 polarisierte er als bayerischer Ministerpräsident, etwa im Dauerstreit mit der Kanzlerin um eine Obergrenze zur Aufnahme von Flüchtlingen. Merkel arbeitet gerade an einem ihrer letzten großen politischen Coups, dem schwierigen Kompromiss zu den EU-Corona-Hilfen. Der Kanzlerin ist der Platz in den Annalen sicher. Seehofers politischer Karriere fehlt der Glanz. Eine Einigung beim Thema Asyl oder zumindest die Vorbereitung derselben wäre für den Ingolstädter auch eine persönliche Genugtuung. Wenn alles planmäßig läuft, ist Seehofer noch bis 2022 als Innenminister im Amt. Dann könnte auch die Reform abgeschlossen sein.

Doch der Minister ist nicht alleine. Zunächst muss die EU-Kommission ihren Vorschlag den Mitgliedsstaaten unterbreiten. Den „Neuen Pakt für Asyl und Migration“, den EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zum Amtsantritt im Dezember versprach, lässt immer noch auf sich warten. Erst war der Vorschlag der Kommission für das Frühjahr, dann für Juni angekündigt worden, nun soll er im September kommen. Ohne den Vorschlag kann der Gesetzgebungsprozess samt Verhandlungen nicht beginnen.

Die offizielle Erklärung für die Verzögerung lautet, die schwierigen Verhandlungen über den Wiederaufbaufonds und den EU-Haushalt sollten nicht durch zusätzlichen Streit beim Thema Asyl belastet werden. Aber offenbar ist schon die Formulierung eines Kompromissvorschlages ein Kunststück. „Neben Corona ist der Grund für die Verspätung, dass die Vorstellungen der Staaten sehr weit auseinander liegen“, sagt der Asyl-Experte Constantin Hruschka vom Max-Planck-Institut für Sozialrecht in München.

Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte Anfang Juli, bis Jahresende werde man das Projekt „sicher nicht abschließen können, aber es wäre schön, wenn wir ein paar Fortschritte erleben können“.

Was die EU-Kommission versucht

Den Schwarzen Peter hat derzeit die EU-Kommission. Sie steht wegen des immer wieder verschobenen Kompromissvorschlags in der Kritik. Zusammen mit dem für Migration zuständigen Vizepräsidenten der Kommission, dem griechischen Christdemokraten Margaritis Schinas, reiste die schwedische Innenkommissarin Ylva Johansson Anfang des Jahres in acht EU-Hauptstädte zu Gesprächen über die Reform. Die Vertreter der anderen Mitgliedsstaaten kamen zu Besuch nach Brüssel oder man besprach sich per Telefon.

Vor Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft startete Johansson im Mai und Juni eine zweite Gesprächsrunde mit den Innenministern, um in ihrem Kompromisspapier weiter zu kommen. Dass die entscheidenden Verhandlungen über die Corona-Hilfen nun vorgezogen werden, ist zwar ein Rückschlag für die Reform. Aber vielleicht, so kalkulieren Beteiligte, sei das auch eine Chance. „Je weniger in der Politik und in der Öffentlichkeit emotional über Migration debattiert wird, desto größer sind die Chancen, dass wir zu einer Einigung kommen“, sagt ein einflussreicher EU-Politiker. Wenn alle nervös seien, werde es schwierig.

Warum eine Lösung wichtig wäre

Wie wichtig eine Einigung für die EU wäre, hat der Erpressungsversuch des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan Anfang März gezeigt hat. Erdogan ließ tausende Flüchtlinge an die EU-Grenze nach Griechenland karren, um Kooperation in Syrien und zusätzliches Geld für den Flüchtlingsdeal von 2016 zu erzwingen. In der Türkei halten sich rund vier Millionen Flüchtlinge auf. Schon jetzt sind EU-Zahlungen in Höhe von sechs Milliarden Euro verabredet. Griechische Grenzer wehrten die Menschen gewaltsam ab, es wurde scharf geschossen.

Hilfsorganisationen werfen der griechischen Regierung vor, systematisch die Rechte von Asylbewerbern zu verletzen. Auch die kroatische Grenzpolizei gehe brutal gegen Migranten vor, behaupten Menschenrechtsorganisationen. Immer wieder müssen Migranten wochenlang unter menschenunwürdigen Umständen auf Schiffen im Mittelmeer verharren, weil es keine festen Regeln für Aufnahmeprozeduren gibt. Europa, das sich gerne als Wiege der Menschenrechte zelebriert, zeigt sich bei diesen Gelegenheiten von seiner besonders hässlichen Seite.

Doch Bewegung dürften weniger humanitäre Aspekte als politische Notwendigkeiten bringen. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex, aber auch das deutsche „Gemeinsame Analyse- und Strategiezentrum Illegale Migration“ rechnen für den Sommer mit einer Zunahme der Flüchtlingszahlen Richtung Europa. Zwischen Januar und April beantragten insgesamt 164 718 Menschen Asyl in der EU, die meisten von ihnen in Spanien, Deutschland, Frankreich und Griechenland. Kein Vergleich zu den Jahren 2015 und 2016, als es über das Jahr verteilt jeweils rund 1,3 Millionen waren.

Meist ist es beim Thema Migration so: Wenn Entspannung herrscht, gibt es keine unmittelbare politische Notwendigkeit neue, funktionierende Regeln zu schaffen. Sobald die Migrantenzahlen steigen, wird die Dringlichkeit für eine Lösung überdeutlich, doch die Bereitschaft für eine Einigung geringer. Doch der aktuelle Zeitpunkt ist nicht ungünstig. Das Thema ist virulent, aber nicht überpräsent. Vielleicht kann auch während der Verhandlungen zum siebenjährigen EU-Haushalt die eine oder andere Streitfrage im Bereich Asyl gelöst werden. „Man redet ja nie nur über eine Sache“, heißt es in Berlin.

Grenzschutz, Rückführungen

Einig sind sich die meisten Mitgliedsstaaten bei der Verstärkung des Schutzes der EU-Außengrenzen. Mit diesem Thema begannen die Innenminister jüngst ihre Beratungen. Die Grenzschutzagentur Frontex soll bis 2027 einen Personalstamm von 10 000 Mitarbeitern bekommen. Nun steht zur Debatte diesen Personalaufbau zu beschleunigen. Frontex soll in Zukunft auch vermehrt bei der Rückführung abgelehnter Migranten helfen.

Konsens besteht auch in der Frage, dass auf Drittstaaten mehr Druck ausgeübt werden soll. Visa, Entwicklungshilfe und Zugang zum Binnenmarkt soll es in Zukunft vor allem im Gegenzug für die Rücknahme abgelehnter Asylbewerber geben. Ob das als Druckmittel ausreicht? „Binnenstaaten wie Deutschland oder Frankreich stellen sich die Rückführung von Personen zu einfach vor“, sagt Asyl-Experte Hruschka.

Soviel dürfte klar sein: Wer sich von Europa mehr Menschlichkeit erhofft, wird enttäuscht werden. Für Migranten dürfte es in Zukunft noch schwieriger werden, legal in die EU zu gelangen. Ein Knackpunkt ist die mangelnde Tradition osteuropäischer Staaten, Asyl zu gewähren. Ausländer lernte man im ehemaligen Ostblock vor allem als Besatzer kennen. Jeder, der hier Großzügigkeit verlangt, beißt in Budapest, Warschau, Prag oder Bratislava auf Granit.

Auch die harte Tour funktioniert nicht. Mehrfach verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Ungarn, Polen und die Tschechische Republik wegen ihrer Weigerung, sich an der Verteilung der Asylbewerber aus Italien und Griechenland zu beteiligen. Die Betroffenen reagieren fast schon mit Genugtuung. „Das Urteil hat keine weiteren Konsequenzen“, sagte die ungarische Justizministerin Judit Varga. Das Wichtige sei, das man keine Asylbewerber aufgenommen habe. Beim EU-Mainstream mache man nicht mit.

Das ist die Realität. Wer eine Einigung der 27 EU-Mitglieder will oder auch nur einen Kompromiss einer größeren Gruppe bereitwilliger Staaten anstrebt, muss diese Gemengelage berücksichtigen.

Die heiklen Fragen: Vorauswahl und Verteilung

Politisch besonders heikel sind zwei Fragen, die Innenkommissarin Johansson bei ihren Sondierungsgesprächen ausgelotet hat. Zum Einen holte sie die Meinungen der Innenminister zur Einrichtung schneller, vorläufiger Asylverfahren an der Außengrenze ein, sogenannter Pre-Screenings. Die Bundesregierung hatte im vergangenen Herbst einen entsprechenden Vorschlag gemacht. Grundsätzlich gibt es Interesse für diese Lösung bei den Mitgliedsstaaten. Das Kalkül, eine strengere Vorauswahl zu treffen, die zur Abnahme der Asylträger insgesamt führt, spielt allen Regierungen in die Hände. Denn insgesamt wären dann weniger Migranten zu verteilen.

Doch wie diese Vorauswahl im Detail aussehen, wo sie stattfinden, wer sie treffen und was mit den abgelehnten Bewerbern an den Außengrenzen geschehen soll, ist umstritten. Schon die vereinbarte Umsiedlung von 160 000 Flüchtlingen aus Italien und Griechenland zwischen 2015 und 2017 funktionierte kaum, die Mitgliedsstaaten trauten den beiden Mittelmeerländern nicht zu, sorgfältige Sicherheitsabfragen und Registrierungen vorzunehmen. Denkbar wäre, die EU-Asylagentur EASO stärker in diesen Prozessen zu beteiligen. Doch auch hier gibt es Vorbehalte. Viele Mitgliedsstaaten wollen die Entscheidung über Asylanträge nicht aus der Hand geben.

Ein Kompromiss könnte so aussehen, wie ihn das International Centre for Migration and Policy Development in Wien vorschlägt. „Wir probieren ein Schnellverfahren an drei, vier Standorten auf freiwilliger Basis aus. Dann sehen wir, ob es funktioniert“, sagt Direktor Michael Spindelegger, ehemaliger österreichischer Außenminister und ÖVP-Politiker mit besten Kontakten in die Regierung von Kanzler Sebastian Kurz. Auch in Berlin kalkuliert man mit ausgewählten Standorten zur Probe.

Viele Vorschläge gehen in Richtung freiwilliger Modellprojekte. Dabei einigt sich eine möglichst große Gruppe von Ländern auf eine Regelung. Man bemüht sich um deren Funktionieren, hofft auf den positiven Effekt und die Teilnahme möglichst vieler Mitgliedsstaaten. Zu viel mehr scheint die EU dieser Tage beim Thema Asyl nicht im Stande. Das gilt auch für die Gretchenfrage bei der Reform, die Verteilung der Migranten.

Problem Verteilung

Die Frage soll in den Diskussionen zurück gestellt werden, bis man sich auf den anderen Gebieten geeinigt hat. Schon bei der Frage der Verteilung von Bootsflüchtlingen, die über das Mittelmeer in ankommen und oft wochenlang auf Schiffen vor Italien oder Malta ausharren müssen, tut sich die EU schwer. Bislang zeigten sich nur bis zu neun Länder zur Aufnahme der Migranten bereit, darunter jedesmal Deutschland und Frankreich, die als größte EU-Länder auch die meisten Asylbewerber aufnehmen.

Frankreich hat innenpolitische Probleme und überlasse Berlin dankbar die Initiative, heißt es aus Paris. Innenminister Seehofer hat nach ersten Diskussionen die grundsätzliche Bereitschaft zur Aufnahme von Bootsflüchtlingen von etwa einem Dutzend Regierungen bekommen. Als Bedingung für ihren Einsatz nannten die Staaten, dass die Ankunftsländer Italien und Malta einen unverhältnismäßig großen Andrang bewältigen müssten. Das ist derzeit nicht der Fall. Italien beispielsweise hat dieses Jahr gerade einmal 7000 Asylbewerber aufgenommen, Deutschland hingegen 40 000. Würde eine Quote verabredet, müsste Rom Migranten etwa aus Griechenland übernehmen. Das ist in Italien, wo die rechtsnationale Lega zwar schwächelt, aber keine Gelegenheit auslässt, auf Brüssel oder Berlin zu schimpfen, derzeit kaum zu vermitteln.

Die Frage der Mittelmeer-Migranten ist deshalb von Bedeutung, weil ihre Verteilung als Modell für die Verteilung von Asylbewerbern insgesamt in der EU dienen könnte. Der Kompromiss könnte so aussehen, dass sich so viele Mitgliedsstaaten wie möglich auf Quoten einigen und diejenigen außen vor lassen, die sich pauschal jedem Kompromiss verweigern. In vergemeinschafteten Politikfeldern, und dazu gehört der Bereich Asyl, kann die EU mit Mehrheit entscheiden. Innenkommissarin Johansson sagte anlässlich ihres Besuchs in Warschau: „Ich habe den Eindruck, dass die Regierungen im Rahmen des Migrations- und Asylabkommens zu einem neuen Kompromiss bereit sind.“ Man verfolge inzwischen einen „pragmatischen Ansatz“.

In diesem Zusammenhang ist ein auf den 9. April datierter gemeinsamer Brief der Innenminister Italiens, Deutschlands, Frankreichs und Spaniens an die EU-Kommission von Bedeutung. Die vier verlangen dort zwar noch einen „bindenden Mechanismus zur fairen Verteilung der Migranten“. Die Rede ist aber auch von „anderen Maßnahmen der Solidarität“, die in Ausnahmefällen geduldet würden. Länder wie Ungarn, Polen oder Tschechien, die sich partout nicht an einer Verteilung beteiligen wollen, könnten sich dann stärker beim Grenzschutz, bei der Rückführung abgelehnter Bewerber oder bei der Logistik beteiligen, anstatt Asylbewerber aufzunehmen. Entsprechende Klauseln werden auch im Vorschlag der EU-Kommission erwartet. „Das ist eine ausgestreckte Hand in Richtung der Visegrád-Staaten“, sagt Asylrechts-Experte Hruschka.

Dass auch Italien oder Spanien, also traditionell besonders von Migration betroffene Länder, so einen Vorschlag mittragen, deuten Kenner als positives Signal im Hinblick auf eine Einigung. Gewiss spielt dabei auch eine Rolle, dass im Innenministerium in Rom mit Luciana Lamorgese eine parteilose Pragmatikerin im Amt ist und kein populistischer Lautsprecher wie ihr Amtsvorgänger Matteo Salvini. Die politische Konstellation könnte ungünstiger sein in der EU.

Es ist machbar, aber wie

Davon ist auch Manfred Weber überzeugt. „Auf der Sachebene ist der Kompromiss machbar“, sagt der Chef der EVP-Fraktion im Europa-Parlament. Inhaltlich sei das Thema weitgehend besprochen. Jeder wisse heute, was notwendig ist. Die Zeit sei günstig. „Es gibt im nächsten halben Jahr ein Momentum“, so drückt es Weber aus. Die Frage sei: „Geben wir uns alle nun den Schubser und klären das jetzt, ist dieser Wille da?“

Doch ob es zur Einigung kommt, ist nicht nur eine Frage des Willens, sondern auch des Timings. Erst, wenn der Vorschlag der EU-Kommission nach dem Sommer vorliegt, können offiziell die Verhandlungen unter den Mitgliedsstaaten beginnen. Wenn sich die Minister verständigt haben, müssen sich die Staats- und Regierungschefs mit dem Thema beschäftigen. Bei denen stehen aber nicht nur die Corona-Folgen, sondern etwa auch noch der Brexit zum Jahresende auf dem Programm. Wie soll da so ein schwerer Brocken wie die Asylreform noch Platz im Programm finden?

Auch die Gesetzes-Prozedur selbst hat es in sich. Parallel zu den Verhandlungen der Mitgliedsstaaten untereinander wird auch das EU-Parlament Änderungsanträge zum Kommissionsentwurf einreichen. Kommission, Rat und Parlament müssen sich schließlich auf die Neufassung der Einzel-Verordnungen einigen. Das kann dauern.

Schritt für Schritt aus der Blockade

Bei alledem spielen auch die 27 nationalen Parlamente eine Rolle, und in ihnen die an den jeweiligen Regierungen beteiligten Parteien. In der Großen Koalition in Berlin wäre das zum Beispiel die SPD. Ihr migrationspolitischer Sprecher ist Lars Castellucci aus Heidelberg. Die SPD ist strikt gegen schnelle Vorverfahren an der Grenze, was einen EU-Kompromiss erschwert. Sie schlägt aber die Einrichtung europäischer Modell-Aufnahmezentren vor, die aus dem gemeinsamen EU-Haushalt finanziert werden könnten. Die Verteilung anerkannter Asylbewerber, aber auch die Rückführung der abgelehnten, könnte aus EU-Mitteln bezahlt werden.

Castellucci denkt an die Allianz der Länder, die bereit sind für die Aufnahme von übers Meer gekommenen Flüchtlingen. Elf Länder hätten zudem minderjährige Flüchtlinge aus Lagern wie Moria evakuiert. „Noch eine weitere Aktion und wir haben eine Tradition geschaffen. Dann gibt es eine Kette an positiven Aktivitäten, mit denen man zeigen kann, wie es geht“, sagt der 46-Jährige. Der große Wurf wäre das nicht. Aber vielleicht muss Europa schlicht versuchen, Schritt für Schritt aus seiner Blockade herauszukommen.

Und dann wäre da noch der Gang der Dinge, den die Politik zwar beeinflussen, aber eben nicht immer definieren kann. Castelluccis Vater stammt aus einem kleinen Ort in der italienischen Region Latium, lernte seine Frau am Strand in Italien kennen und entschied sich dann, nach Deutschland umzusiedeln. „Damals wartete in Deutschland niemand auf einen Italiener, man wollte billige Arbeitskräfte“, erzählt der SPD-Politiker. Heute hätten 25 Prozent der Menschen in Baden-Württemberg einen Migrationshintergrund. Castellucci junior, der Sohn des damaligen Gastarbeiters, ist Bundestagsabgeordneter. Wer hätte dem Senior vor rund 50 Jahren so eine Entwicklung vorhergesagt?

Manchmal bedarf es also der Geduld, meint Castellucci. Die sollte man auch mit den EU-Mitgliedsstaaten haben, die sich so schwer tun bei der Aufnahme von Asylbewerbern. Manchmal brauche es einfach Zeit. „Und diese Zeit sollte man den Dingen auch lassen“, sagt er. Das klingt nicht gerade nach dem bevorstehenden Durchbruch. Aber doch nach dem Realismus, der vielleicht gerade nötig ist.

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