Reden wir über den Tod

Augsburger Allgemeine, 9. April 2020 - Die Corona-Pandemie konfrontiert uns mit dem Lebensende. Zeit, sich dem Tod zu stellen. Er ist das letzte Tabu unserer Gesellschaft.

Wenn es Bilder gibt, die die ganze Dramatik der Corona-Pandemie bündeln, dann sind es die von den Leichentransporten in Bergamo. Man sieht, wie eine Kolonne von Militärfahrzeugen nachts in langsamem Tempo die Stadt verlässt. Was sie transportieren, sieht man nicht. Es sind die Särge der Covid-19-Opfer, dieser oft tödlichen Krankheit, der wir eine abstrakte Kennung gegeben haben, um sie irgendwie zu fassen. Weil ab Mitte März viele Menschen gleichzeitig starben, kamen die Krematorien im norditalienischen Bergamo mit den Verbrennungen nicht hinterher. Die Leichen mussten andernorts eingeäschert werden, das Militär sprang ein. Die Bilder waren nicht nur wegen der Zahl der Fahrzeuge und der in ihnen aufgebahrten Särge schockierend. Sie waren es auch, weil der Tod auf ihnen in seiner ganzen Gnadenlosigkeit zum Vorschein kam. Keine Naturkatastrophe, kein Erdbeben, kein Krieg, kein örtlich begrenztes Drama – nein, das Virus kann uns alle erwischen. Das war die Botschaft der Bilder aus Bergamo.

Weil das Sterben in Corona-Zeiten massenhaft vor sich geht, bahnt sich der Tod seinen Weg in die Öffentlichkeit. Das ist auch das Karfreitagsthema. Im Christentum gedenken Gläubige an diesem Tag dem Tod Jesu, der ans Kreuz genagelt wurde. Der Karfreitag bedeutet Trauer, Stille, Tanzverbot. Leicht vergessen wird dabei, dass ohne Jesu Tod die ganze Osterbotschaft der Auferstehung zu neuem Leben gar keinen Sinn hätte. Der Tod und das Leben sind eins, das lehrt die Ostergeschichte.

Auch wer sich nicht als religiös bezeichnet, kann in diesen Tagen dem Tod nicht aus dem Weg gehen. Schließlich ist der „Shutdown“ eine Folge des bereits eingetretenen oder befürchteten Massensterbens. Sars- CoV-2 hält uns unsere Vergänglichkeit vor Augen. Doch nach wie vor verweigern sich viele dem Thema.

Das gilt vor allem für jüngere Generationen und liegt in gewisser Hinsicht am Lauf der Dinge. Bis zur Lebensmitte sind wir mit vielem beschäftigt, mit dem Beruf oder der Familie. Ab der Lebensmitte folgen meist die ersten Gedanken über das unvermeidliche Ende, das ver- meintlich immer noch sehr weit entfernt liegt. Ältere dagegen wissen um ihre begrenzte Zeit. Und entwickeln während dieser Krisentage eine besondere Aktivität.

„Wir haben alle Angst zu sterben“

Zumindest hat das die italienische Schriftstellerin Francesca Melandri beobachtet. Melandri ist seit einem Monat in ihrer römischen Wohnung in Quarantäne. Sie schreibt dort unentwegt. Unter anderem hat sie einen „Brief aus der Zukunft“ ver- fasst, in dem sie aus italienischer Sicht den Ansteckungsnachzüglern treffend die seelischen und sonstigen Bewegungen eines Menschen zu Pandemie- und Quarantänezeiten verdeutlicht. Italien ist anderen Ländern nicht nur bei den Infizier- tenzahlen, sondern auch hier etwas voraus.

Sie schrieb, es war im Spiegel zu lesen: „Wir sehen, dass ihr euch genauso verhaltet, wie wir uns verhalten haben. Ihr führt die gleichen Diskussionen wie wir bis vor kurzem, in denen die einen sagen „Das ganze Theater ist doch nur eine etwas heftigere Grippe“ und die anderen bereits verstanden haben.“ Wenn alles vorbei ist, schrieb Melandri, werde die Welt nicht mehr die sein, die sie davor war. Wer weiß.

Und die Senioren? „Mir scheint es“, sagt Melandri, wenn man sie danach fragt, „als reagierten die Alten mit neuer Energie auf diese Krise.“ Und ja, wer hat sie nicht gesehen, die ungezählten betagten Spaziergänger? Melandri vermutet, die Senioren seien auch deshalb ausgerechnet jetzt so lebensfroh, weil sie sich ausgerechnet jetzt weniger alleine fühlten. Ein Widerspruch? „Wir haben gerade alle Angst davor, zu sterben“, sagt die 55-Jährige. Die Todesangst sei den Alten nicht mehr exklusiv. Das verbinde.

Wie wäre es angesichts dessen, sich wirklich mit dem Tod zu beschäftigen – anstatt vor ihm davonzulaufen? Und damit sind nicht die notwendigen lebensrettenden Maßnahmen gemeint, sondern die Auseinandersetzung mit dem Thema Tod an sich. Dem Tod haftet in unserer Wahrnehmung immer etwas Dunkles, Finsteres an. Der Tod ist eines der letzten Tabus unserer Gesellschaft, wenn nicht das letzte. Die Beschäftigung mit ihm ist ins Private delegiert. Wer öffentlich über den Tod spricht, der hat schnell ein Grufti-Image. Dabei handelt es sich auch bei dieser Reaktion lediglich um einen weiteren, unbewussten Abwehrmechanismus.

Kurse in „Todes-Erziehung“

Es gibt Menschen, die sich professionell mit dem Lebensende auseinandersetzen, sozusagen stellvertretend für uns alle: Hospiz-Mitarbeiter, Psychologen, Ärzte, denen eine menschenwürdige Begleitung Sterbender am Herzen liegt. Ines Testoni beschäftigt sich ebenfalls professionell mit dem Ende des Lebens. Sie wurde in Brescia geboren, dem Epizentrum der Corona-Pandemie in Italien, und arbeitet an der Universität Padua, einer Gegend, in der sich das Virus besonders früh ausbreitete.

Testoni ist Psychologie- und Philosophie-Professorin und schon ihr Arbeitsgebiet klingt wie eine Provokation: Sie bietet in Padua einen Master-Studiengang in „Death Studies and the End of Life“ an, übersetzt also Studien zum Tod und Le- bensende. Zudem bietet Testoni Kurse in „Death Education“, Todes-Erziehung, an. Todes-Erziehung? Während man sich unter Todesstudien vielleicht noch etwas vorstellen kann, ist das erklärungsbedürftig. „Ich helfe dabei, dass den Menschen der unglaubliche Reichtum menschlicher Botschaften bewusst wird, wenn es um die Bedeutung des Lebens und die Gewissheit des Todes geht“, sagt Testoni.

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Todes-Forscherin Ines Testoni. Foto: Rita Antonioli.

In ihren Kursen ist der Tod das zentrale Thema. Es wird gelesen, diskutiert, philosophiert. Testoni bietet auch Kurse in Schulen an, die das Angebot aber meist nur annehmen, um den Selbstmord eines Mitschülers zu verarbeiten.

Frage an Ines Testoni: Warum diese Zumutung der Auseinandersetzung mit dem Ende? Nun, es ist eigentlich einleuchtend: Die Todesangst, Motor vieler anderer Ängste und Antrieb der Überlebenslust, geht zurück, wenn man sich mit dem Tod beschäftigt. „Den Stier bei den Hörnern packen“, nennt Testoni das. Die Gabe des Menschen sei es, Probleme zu erkennen und Lösungen zu finden. Es ist ja eine Lebensweisheit: Wer sich mit seinen Ängsten befasst und ihnen nicht aus dem Weg geht, kann sie überwinden.

Das Paradox vom großen Nichts

Dem Tod schlägt man jedoch auch so kein Schnippchen. Das wusste Platon ebenso wie Angelus Silesius. „Die Todesangst ist die Angst aller Ängste“, sagt Schriftstellerin Francesca Melandri. Religionen, Riten, Rituale, aber auch Kultur und Kunst seien aus dieser Überforderung heraus entstanden. Melandri hat dem Anlass gemäß vor Tagen „Die Pest“ von Albert Camus in die Hand genommen, das Buch dann aber rasch wieder weggelegt. „Ich habe jetzt eher das Bedürfnis, mich mit Stille zu nähren“, sagt die Schriftstellerin.

Die Unvorstellbarkeit des Todes und seiner Konsequenzen bringt entweder den Glauben oder das Paradox vom großen Nichts hervor. Hinnehmen, nicht zu wissen, was nach dem Tod passiert, ist keine Option für uns Menschen. Wir verdrängen das sichere Ende lieber. Insgeheim sind wir immer noch hilflos davon überzeugt, mit unserem Geist den größten Geheimnissen des Universums auf die Schliche zu kommen. Der Tod und was nach ihm kommt – oder nicht – ist so eines.

Was also unternehmen, um sich dem Thema Tod anzunähern? „Sind wir wirklich so sicher, dass Tod Vernichtung bedeutet?“, fragt Ines Testoni. Statt ihn zu verdrängen, statt zwanghaft einzukaufen, zwanghaft Sex zu haben, sich zu prügeln, Drogen und Alkohol zu konsumieren, könnten wir über den Tod lesen, das Religiöse als Spiritualität annehmen, meditieren und uns in Gruppen zusammentun, rät sie. „Das Gespräch reduziert die Angst“, sagt die Professorin.

Bleibt zum Schluss die Gewissheit, dass der Tod nicht nur unausweichlich, sondern auch der größte Sinnstifter überhaupt ist. Was hätte denn im unendlichen Leben noch Bedeutung? Welche Entscheidungen würden wir nie treffen, wenn wir ewig lebten? Der Tod zwingt uns in das Leben. Es mit Sinn zu füllen, ist die Kunst. Vielleicht gibt es sogar eine schlimmere Vorstellung als das Lebensende: Die Reue, bloß existiert, aber nicht gelebt zu haben.

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