Wie ein Tritt ins Gesicht

ZEIT online, 12.11.2015 Mehrere Opfer sexuellen Missbrauchs durch Priester klagen Franziskus an. Dem Papst seien alte Seilschaften wichtiger als die versprochene rückhaltlose Aufklärung.

Als Papst Franziskus auf seiner USA-Reise Ende September nach Philadelphia fuhr, suchte Juan Carlos Cruz lieber das Weite. Cruz, 51, stammt aus Santiago de Chile, er arbeitet in Philadelphia als Leiter der Kommunikationsabteilung eines großen Chemiekonzerns. Cruz flog zu einer Familienfeier in die Heimat, er war nicht traurig, dass er deshalb den Papst verpasste, im Gegenteil: Franziskus, der in der ganzen Welt als mutiger Reformer gefeiert wird, steht in den Augen von Juan Carlos Cruz für Stillstand und Vertuschung.
Am 10. Januar dieses Jahres nominierte der Papst den neuen Bischof von Osorno in Chile, Juan Barros, 59, einen Zögling von Fernando Karadima. 26 Jahre lang leitete der heute 85-jährige Karadima die Pfarrgemeinde im Nobelviertel El Bosque von Santiago und belobigte in seinen Predigten Chiles Ex-Diktator Augusto Pinochet. Aber vor allem missbrauchte er nachweislich Minderjährige und errichtete eine Schreckensherrschaft aus Selbstverherrlichung, Psychodruck und Vergewaltigung. Aus seinem Umfeld kommen nicht nur Dutzende Priester, sondern auch vier in Chile amtierende Bischöfe, darunter der jüngst von Franziskus berufene Barros. „Er war dabei, als Karadima mich berührte“, sagt Juan Carlos Cruz, der nach seiner Aussage als 17-Jähriger eines von Karadimas Opfern im Priesterseminar war. „Er küsste Karadima. Ich sah, wie er abscheuliche Dinge tat.“
Erst 2011 wurde Karadima vom Vatikan als Priester suspendiert, strafrechtliche Ermittlungen verliefen im Sand, weil die Taten aus den 1980er Jahren verjährt waren. Der frühere Pfarrer lebt nun in aller Abgeschiedenheit. Juan Carlos Cruz sagt, er leide bis heute unter dessen Taten und sei noch immer in Therapie. „Ich habe Freunde, die sich umgebracht haben.“ Das größere Problem für die Kirche aber ist heute Barros, dem die Bischofskongregation im Vatikan am 31. März bescheinigte, keine „objektiven Gründe“ gegen seine Nominierung gefunden zu haben. Cruz hingegen empfand es als „Schock“, dass der Reform-Papst einen Mann als Bischof einsetzt, der angeblich bei Gewaltakten dabei war und Karadimas Taten bis heute vertuscht.
Auch in Osorno regt sich heftiger Widerstand gegen Barros. Bei seiner Amtseinführung im März versuchten Gläubige dem Bischof den Zutritt zur Kirche zu verweigern und störten die Messe mit Sprechchören.

 

 

Die Nominierung des umstrittenen Geistlichen ist ein Politikum über die Grenzen Chiles hinweg. Kürzlich wurde es noch einmal befeuert: Am 2. Oktober veröffentlichte das chilenische Nachrichtenportal Ahora Noticias einen Videomitschnitt, der zeigt, wie der Papst bei einer Generalaudienz auf dem Petersplatz in einem kurzen Zwiegespräch über den Fall Barros spricht.

Die Gläubigen von Osorno sollten sich „von diesen ganzen Linken, die diese Sache aufgebauscht haben, nicht an der Nase herum führen lassen“, sagte Franziskus. Die Menschen vor Ort litten, weil sie „sich von den Dummheiten, die diese Leute sagen, mitreißen lassen“. Gegen Barros lägen keine Beweise vor, die einzige jemals erhobene Anklage sei abgewiesen worden.
Nun standen das Missbrauchsopfer Cruz und seine beiden Mitstreiter José Andrés Murillo und James Hamilton als „Linke“ da, die nach den Worten des Papstes „Dummheiten“ verbreiteten. Auch Murillo und Hamilton wurden als Jugendliche nach eigener Aussage von Karadima missbraucht, alle drei halten Barros sowie drei andere von Karadima herangezogene und weiterhin amtierende Bischöfe als Mitwisser für nicht tragbar. Cruz, Murillo und Hamilton klagen in einem Zivilprozess gegen die Diözese von Santiago de Chile wegen Mitwisserschaft und Vertuschung und fordern Schadensersatz von insgesamt 600.000 Dollar. Einen Prozess gegen Barros, der alle Vorwürfe bestreitet, hat es nie gegeben. „Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass der Papst so etwas sagt“, erklärt Murillo, der sich in Chile für den Kinderschutz engagiert und in einer Regierungskommission für Menschenrechte sitzt. „Das ist Doppelmoral.“
Immer wieder findet Papst Franziskus harte Worte gegen Kleriker, die sich des Missbrauchs schuldig gemacht haben. „Die Verbrechen und Sünden des sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen dürfen nicht länger geheim gehalten werden“, sagte er beim Weltfamilientag in Philadelphia und versprach „eiserne Wachsamkeit“. Alle Verantwortlichen müssten Rechenschaft ablegen.
In den USA kam der Papst zum wiederholten Mal mit Missbrauchsopfern zusammen, zuvor hatte er etwa den Rücktritt des wegen Vertuschung von sexuellen Missbrauchs verurteilten Bischof von Kansas City, Robert Finn, vorangetrieben. Im März 2014 richtete er zudem eine Kommission für den Schutz von Minderjährigen ein, die ihm Vorschläge unterbreiten soll. So wird derzeit im Vatikan ein Tribunalgeschaffen, vor dem sich zukünftig auch Bischöfe verantworten sollen, die Fälle von Missbrauch verschleiert haben. Franziskus wird für seine Initiativen gefeiert, längst gibt es aber Zweifel an seinem Aufklärungswillen. „Der Papst ist sehr gut darin, positive Schlagzeilen zu produzieren, aber wenn es um null Toleranz bei sexuellem Missbrauch geht, lässt er zu wünschen übrig“, urteilt Cruz.
Mitglieder in der päpstlichen Kommission zum Schutz von Minderjährigen sind auch der 57 Jahre alte Brite Peter Saunders, der als Kind von zwei Jesuiten in einer Wimbledoner Schule missbraucht worden ist, sowie die Irin Marie Collins, die als 13-Jährige von einem Kaplan im Krankenhaus vergewaltigt wurde. Saunders kritisierte Franziskus scharf. In einem Interview mit der US-Online-Zeitung The Daily Beast sagte er: „So sehr Franziskus bewundert wird, hat er sich doch ein paar echte Schnitzer erlaubt und wir müssen ihn damit von Angesicht zu Angesicht konfrontieren.“ Der Kommentar des Papstes über Barros sei „schrecklich“, ein „schwerer Fehler“ sowie eine Beleidigung von Juan Carlos Cruz und vielen anderen Gläubigen in Chile gewesen. „Als die Äußerungen des Papstes bekannt wurden, ließ Collins über ihren Twitter-Account wissen, sie sei „entmutigt und betrübt“.
Saunders fordert nun, dass sich Franziskus beim nächsten Treffen der Kommission den Fragen der Mitglieder stellt. Allerdings kommt die Kommission nur zweimal im Jahr zusammen, das nächste Mal im Februar 2016. Die Stimmung in der 17-köpfigen Gruppe, die aus Laien und Priestern zusammengesetzt ist und das Flaggschiff des Papstes im Kampf gegen Missbrauch sein soll, ist angespannt. Bei einigen Mitgliedern herrscht offener Unmut über Saunders und seine öffentlichen Stellungnahmen, die die Kommission in ein schlechtes Licht rückten. Saunders sagt, er und Collins würden trotz des Unbehagens im Vatikan und anderen Bereichen der Kirche „keine Ruhe geben“.
Franziskus muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass er mit zweierlei Maß misst. Warum berief er den Australier Kardinal George Pell, der unter Benedikt XVI. wegen seiner umstrittenen Rolle im Missbrauchsskandal der australischen Kirche bereits als Kandidat für die Leitung der Bischofskongregation durchgefallen war, zum Chef des neuen Wirtschaftssekretariats? Den ehemaligen belgischen Primas, seinen alten Bekannten, Kardinal Godfried Danneels, nominierte Franziskus persönlich als Teilnehmer für die letzten beiden Bischofssynoden, obwohl Danneels im Jahr 2010 nachweislich ein Missbrauchsopfer aufgefordert hatte, seine Anschuldigungen gegen einen Bischof nicht öffentlich zu machen. Im Fall Barros drängt sich erneut der Verdacht auf, dass alte Seilschaften bei Franziskus mehr wiegen als das Versprechen, rückhaltlos aufzuklären.
Die Spur führt dabei zu zwei Granden des chilenischen Episkopats. Der frühere Erzbischof von Santiago de Chile, Francisco Javier Errázuriz Ossa, sowie dessen Nachfolger Ricardo Ezzati Andrello, sind Vertraute von Franziskus aus dessen Zeit in Argentinien. Während viele in Chile Errázuriz und Ezzati als Männer des alten Systems von Vertuschung und Mittäterschaft einstufen, ließ der Papst beide zu hohen Ehren kommen. Den heute 82 Jahre alten Errázuriz berief er in den von ihm 2013 gegründeten Kardinalsrat für die Reform der Kurie. Ezzati wurde 2014 zum Kardinal ernannt. Beiden wird vorgeworfen, Missbrauchsfälle vertuscht zu haben. Über die Karrieren von Errázuriz und Ezzati unter Franziskus sagt Cruz: „Für uns Opfer waren diese Nominierungen wie ein Tritt ins Gesicht, vom Papst persönlich.“
Errázuriz und Ezzati wiederum blockierten die Berufung von Cruz in die päpstliche Kommission für Kinderschutz. Nachdem vertrauliche E-Mails im September an die Öffentlichkeit gelangt waren, in denen Cruz von den beiden Kardinälen als „Schlange“ und „Wolf“ diffamiert wird, entschuldigte sich der Präsident der Kommission, Kardinal Seán O’Malley, persönlich bei Cruz.
„Der Papst steht weiterhin auf der Seite der Täter und derjenigen, die die Täter schützen“, sagt Cruz bitter. Er hat nun einen Brief zum Fall Barros an den Papst geschrieben. Bis heute hat er keine Antwort aus dem Vatikan erhalten.

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