Barcelona als Maßstab

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.4.2017 - Juventus Turin ist der nationalen Liga längst entwachsen. Gegen den spanischen Klub will der italienische Serienmeister beweisen, dass er endlich wieder zur europäischen Spitze zählt.

Giorgio Chiellini hat eine eher ruhige Fußballwoche hinter sich. Der Abwehrspieler von Juventus Turin sah von der Ersatzbank aus zu, wie seine Mannschaft das italienische Pokalfinale erreichte. Auch am Sonntag, als seine Kollegen die Tabellenführung in der Serie A verteidigten, saß Chiellini am Spielfeldrand. Richtig gefordert war der 32-Jährige ein paar Tage zuvor. Im blauen Anzug und mit Krawatte musste er vor den Professoren der Wirtschaftsfakultät der Universität Turin seine Masterarbeit verteidigen. Die Juroren gaben dem Kicker die Höchstnote für ein Werk mit dem Titel: „Das Business-Modell von Juventus Turin im internationalen Vergleich“.

An diesem Dienstag erfahren die theoretischen Überlegungen des Innenverteidigers so etwas wie ihre praktische Überprüfung. Juventus Turin trifft im Viertelfinale der Champions League auf den FC Barcelona, einen Verein, der lange Zeit nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sportlich das Nonplusultra des europäischen Vereinsfußballs war. Die 0:2-Niederlage der Katalanen am Sonntag in Malaga sowie das 0:4 im Achtelfinal-Hinspiel gegen Paris Saint-Germain wertet man in Turin als Anzeichen dafür, dass die Champions-League-Sieger von 2006, 2009, 2011 und 2015 nicht mehr so unbesiegbar sind wie noch vor ein paar Jahren.

Juventus Turin hat sich systematisch auf Duelle wie das am Dienstagabend im heimischen Stadion vorbereitet. Der lebendige Nachweis für diesen Versuch, endlich wieder auf Augenhöhe mit den besten Klubs Europas zu spielen, trägt den Namen Gonzalo Higuaín. 90 Millionen Euro gab Juventus im Sommer für den 29 Jahre alten Stürmer aus, der noch im vergangenen Jahr 38 Saisontore für den SSC Neapel erzielte, für die weiterhin eher defensiv denkenden Vereine der Serie A ein beeindruckender Rekord. In Turin macht Higuaín dort weiter, wo er in Neapel aufgehört hatte. Schon 27 Treffer erzielte der Argentinier in dieser Spielzeit, für die letzten vier Tore seines Teams, zwei davon beim 2:0-Sieg am Sonntag gegen Chievo Verona, war er persönlich verantwortlich. Die Rekord-Ablöse gilt in Turin bisher als gelungenes Investment.

Noch besser verrechnen ließe sich der teuerste Serie-A-Transfer überhaupt mit einem Erfolg gegen Barcelona. Schon länger ist Juve der nationalen Konkurrenz entwachsen. Juventus steuert mit sieben Punkten Vorsprung auf den sechsten Meistertitel in Folge zu. Dank zweier Higuaín-Treffer gegen den SSC Neapel hat die Mannschaft abermals das Pokalfinale erreicht und könnte den dritten Titel in Folge holen. Was fehlt, ist die Bestätigung auf internationalem Parkett. „Das ist der Grund, warum ich gekommen bin“, sagte Higuaín vor Tagen ohne Umschweife.

Nicht nur der Star-Stürmer und seine blendende Form machen den Tifosi Mut, es ist der Reifeprozess der Mannschaft insgesamt, auf den man bei den Italienern hofft. Im bisher letzten Aufeinandertreffen der beiden Teams, dem Champions-League-Finale von 2015, fanden inzwischen abgewanderte Spieler wie Andrea Pirlo, Paul Pogba, Arturo Vidal und Carlos Tévez keine Handhabe gegen Messi, Neymar und Suárez. Barcelona gewann 3:1. „Heute haben wir mehr Qualität und sind besser in der Ballführung“, behauptet Verteidiger Leonardo Bonucci. Für letztere ist zu großen Teilen der meist unspektakulär, aber extrem effizient auftretende deutsche Weltmeister Sami Khedira zuständig. Erfahrung auf hohem Niveau wurde mit Spielern wie Higuaín, dem früheren Bayern-Stürmer Mario Mandzukic sowie dem ehemaligen Barcelona-Star Dani Alves hinzugekauft.

Besonders hohe Erwartungen ruhen auch auf Paolo Dybala, der den Beinamen „La Joya“ (das Juwel) trägt und als eines der großen Spielmacher-Talente weltweit gilt. Das Zusammenspiel der beiden Argentinier Dybala und Higuaín wirkt bereits in der ersten gemeinsamen Spielzeit ausgereift: „Ich habe das Gefühl, mit Gonzalo schon seit fünf Jahren zusammenzuspielen“, sagte der 23-Jährige. Im Sommer nach dem verlorenen Finale von 2015 ließ sich Juventus den jungen Dybala knapp 40 Millionen Euro kosten. Auch dieser Transfer war mit Weitblick geplant.

Vor dem Match am Dienstag war Juve-Trainer Massimiliano Allegri viel daran gelegen, den positiven Blick auf die Dinge zu schärfen und das Turiner Selbstverständnis, nach dem man wieder zur engeren europäischen Elite zählt, zu pflegen. Den Einwand, Juventus habe sechs seiner bisher acht Endspiele im europäischen Meisterwettbewerb verloren, lässt der Coach nicht gelten. „Die anderen kamen erst gar nicht so weit“, sagte er.

Respekt vor dem Gegner haben die Turiner jedoch auch: Barcelona bewältigte schließlich im epochalen 6:1 gegen Paris Saint-Germain doch noch den Einzug in das Viertelfinale. In Allegris Matchplan spielen deshalb nicht nur Angriffs-Optionen, sondern vor allem die Verteidigung eine wesentliche Rolle. Mit aktiver Teilnahme von Magister Giorgio Chiellini. In kurzen Hosen diesmal, nicht im Anzug.

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