Augsburger Allgemeine, 18.11.2017 - Deutsche Angler und rumänische Wilderer gehen in Italien auf Wels-Jagd. Der italienische Staat schaut dem wilden Treiben auf dem Fluss unbeteiligt zu. Dabei geht es nicht nur um die großen Fische, sondern um ein Millionengeschäft mit zuweilen kriminellen Zügen.

Angerglück am Po. Fotos: Max Intrisano

Angerglück am Po. Fotos: Max Intrisano

Der Kampf beginnt um sieben Uhr Früh. Die Sonne ist gerade über dem Po aufgegangen, als Tobias Oppacher und Thomas Schedlbauer von einer hellen Klingel geweckt werden. Auf jeder ihrer sechs Angeln haben die beiden ein Glöckchen platziert. Es muss ein Monstrum von einem Fisch am Haken hängen, so laut bimmelt es. Die beiden springen mit der Angel in ein kleines Schlauchboot und lassen sich flussabwärts treiben. „Die Strömung, der Sonnenaufgang, der große Fisch an der Angel, es ist ein schwer zu beschreibendes Gefühl“, sagt Oppacher. Wer diese Mischung aus Jagdtrieb, Naturgewalten und Adrenalin mag, der fährt mindestens einmal in seinem Leben an den Po. Oppacher, 30 Jahre alt, war schon sechsmal da. Anderthalb Stunden später ist soweit, der Wels zappelt in Sichtweite. Schedlbauer streift einen Bauarbeiter-Handschuh über und bekommt den Fisch am Kiefer zu greifen. Mit vereinten Kräften und Urlauten ziehen die Angler den Fisch ins Boot. Dann steuern sie eine Sandbank an, Oppacher und Schedlbauer legen ihre vorzeitliche Beute mit ihrem riesigen Maul und ihren

Barteln, die wie Antennen wirken, auf einer Plane ab und nehmen Maß. 2,20 Meter Länge, zwischen 70 und 80 Kilogramm Gewicht. „Der Wahnsinn!“, sagt Schedlbauer. Sie schießen Erinnerungsfotos, wenig später schwimmt der riesige Fisch wieder im Fluss. Der Po ist Europas letztes Anglerparadies, ein Garten Eden für Fischer, in dem der Sündenfall zum Alltag geworden ist. Der Fluss in Norditalien ist naturbelassen und wird von den Einheimischen weitgehend ignoriert. Angler aus Deutschland und Österreich sowie Wilderer aus Rumänien und Ungarn haben den Po hingegen als ihr Revier in Beschlag genommen. Seit bald zwei Jahrzehnten tummeln sie sich hier schon. Die Szene bleibt unter sich, beinahe ungestört vor staatlicher Kontrolle. Der Po ist Niemandsland, eine Art Wilder Westen für Angler in Norditalien. 17 sogenannte Waller-Camps reihen sich zwischen Cremona und der Po-Mündung in die Adria aneinander. Die Betreiber, fast alle aus Deutschland oder Österreich, haben sich den Fluss mit inoffiziellen Absprachen aufgeteilt. Die Konkurrenz…

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.10.2017 - Die antisemitischen Aktionen der Ultras von Lazio Rom sind bekannt. Diesmal spielt auch der Vereinspräsident eine unrühmliche Rolle.

Auf Geheiß des italienischen Fußballverbandes liefen bei den Spielen der Serie A am Mittwochabend Mannschaftskapitäne und Schiedsrichter mit Literatur in der Hand auf den Platz. Manche hielten Primo Levis Shoah-Roman „Ist das ein Mensch?“ in Händen, andere das Tagebuch der Anne Frank, um die die jüngste Affäre im italienischen Fußball kreist. Einige der antisemitischen Aufkleber, die Ultras von Lazio Rom am vergangenen Sonntag im römischen Olympiastadion angebracht hatten, zeigten das 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen ums Leben gekommene Mädchen im AS-Rom-Trikot. Der Grund dieser absonderlichen Provokation: 72 Jahre nach Ende des Holocausts gilt jüdische Identität bei Fußballfans in Rom als Beleidigung. Um dieser Geschichtsvergessenheit entgegen zu treten, mussten die Kapitäne am Mittwochabend in den Stadien einen Ausschnitt aus dem Tagebuch der Frankfurter Jüdin vorlesen, die sich mit ihrer Familie ab 1942 bis zur Deportation in einem Amsterdamer Hinterhaus versteckte. Die Spieler von Lazio Rom waren angewiesen worden, sich zum Aufwärmen vor dem Spiel beim FC Bologna ein T-Shirt mit dem Foto des Mädchens überzustreifen. Eine Gedenkminute für die Opfer der Shoah wurde

abgehalten, auch vor den Partien in unteren Spielklassen. Wie weit der Weg für Italiens Fußball aber noch ist, zeigt etwa die Reaktion der Ultras von Ascoli Calcio in der Region Marken. Beim Zweitligaspiel ihrer Mannschaft am Dienstagabend ignorierten die als rechtsradikal bekannten Anhänger die Holocaust-Gendenkminute ganz bewusst. Aus Protest blieben auch die meisten Lazio-Ultras dem Auswärtsspiel beim FC Bologna fern. Im italienischen Innenministerium weiß man: 85 von 382 Ultragruppierungen in Italien sind rechtsextrem und das nicht erst sei gestern. Die Entrüstung der Branche hat deshalb einen faden Beigeschmack. In einem fragwürdigen Auftritt legte Claudio Lotito, Präsident von Lazio Rom, bereits am Dienstag einen Blumenkranz vor einer Holocaust-Gedenktafel an der römischen Synagoge nieder, als Reaktion auf die Aufkleberaktion seiner Tifosi. Die beiden brasilianischen Fußballprofis Felipe Anderson und Wallace Fortuna dos Santos mussten Spalier stehen, während Lotito sich vor der Presse zum Vorkämpfer gegen Xenophobie, Rassismus und Antisemitismus aufschwang. Lotito, so…

Badische Zeitung, 9.9.2017 - Lorenza und Paola Mazzetti sind die Adoptivnichten Albert Einsteins. Die 90-jährigen Schwestern glauben, dass deutsche Soldaten ihre Adoptivfamilie aus Rache auslöschten.

Lorenza und Paola Mazzetti. Foto: Produktion

Lorenza und Paola Mazzetti. Foto: Produktion

Die Zwillingsschwestern kauerten auf dem Boden im Schlafzimmer, als sie drei Salven aus dem Maschinengewehr hörten. Die erste galt ihrer Tante und Adoptivmutter Nina. Die zweite ihrer 27-jährigen Cousine Luce, Ninas Tochter. Als Letztes erschossen die Deutschen Luces Schwester Annamaria, gennant Cicì. Sie war 18 Jahre alt. Ein junger Soldat, auch er etwa gleichen Alters, sollte die beiden Mädchen im Schlafzimmer im Obergeschoss der Villa mit entsichertem Gewehr bewachen. „Er begann am ganzen Körper zu zittern. Sein Gesicht war voller Tränen“, erzählt Paola Mazzetti von dem Moment, als die Gewehrsalven das Haus erschütterten. Erst da verstanden die Zwillinge, dass soeben ihre Adoptivfamilie ausgelöscht worden war. Paola und Lorenza Mazzetti sind heute 90 Jahre alt. Den Sommer haben die alten Damen in ihrem Domizil am Bolsena-See bei Viterbo verbracht, 90 Kilometer nördlich ihrer Heimatstadt Rom. An das Massaker in der toskanischen Villa Il Focardo erinnern sie sich in jedem Detail. Es war der 3. August 1944, die Mädchen waren gerade 17 Jahre alt geworden, auch damals war es heiß.

Sie erinnern sich an den Suchtrupp, der plötzlich anrückte, an den blonden Kommandanten mit Brille, an den inszenierten Prozess, der mit dem Tod der drei Frauen endete. Auch, warum sie selbst im Gegensatz zu ihrer Adoptivfamilie mit dem Leben davon kamen, ist den Schwestern klar: Ihr Nachname ist Mazzetti, nicht Einstein. Lorenza stockt, schluckt, bricht Sätze mittendrin ab, wenn sie von damals erzählt. „Ich leide noch heute an den Folgen“, sagt sie. Es ist eine Familientragödie im Zeichen der damaligen Weltpolitik. Lorenza und Paola sind die Adoptivnichten Albert Einsteins, des großen Physikers und Nobelpreisträgers. Einsteins in Italien lebender jüdischer Cousin und enger Freund Robert und seine Frau Nina adoptierten die Schwestern 1934. Ein Jahr zuvor war der berühmte Wissenschaftler in die USA emigriert und profilierte sich dort auch als lautstarker Kritiker des Nazi-Regimes. Seine in Italien verbliebene Familie musste für ihn büßen. Auf Hitlers Befehl. Davon sind die Zwillingsschwestern überzeugt. Ein Martyrium fortwährender…

Generalanzeiger, 6.9.2017 - Für Elisa Vittori und Livia Micozzi brach mit den Erdbeben in Mittelitalien vor einem Jahr eine Welt zusammen. Die Überlebenden von Accumoli sind nun an der Adria untergebracht.

Livia Micozzi und Elisa Vittori vor ihrem neuen Zuhause. Foto: Max Intrisano

Livia Micozzi und Elisa Vittori vor ihrem neuen Zuhause. Foto: Max Intrisano

Darf man Musik machen, wenn gerade die Welt untergegangen ist? Nein, dachte Elisa Vittori zunächst. In der provisorischen Zeltstadt von Accumoli wohnten Leute, die wenige Tage zuvor ihre Familienangehörigen beim Erdbeben verloren hatten und deshalb in tiefer Trauer waren. 299 Menschen starben im August 2016 in Mittelitalien, ganze Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht. Es galt also, mit Stille Respekt zu zollen, den Opfern von Accumoli und ihren Angehörigen. Die Blaskapelle sollte schweigen. Wäre es zudem nicht dem toten Schlagzeuger Andrea und seinen Verwandten gegenüber respektlos gewesen, einfach ohne ihn weiterzumachen? In der Nacht des 24. August 2016, als der Boden unter Accumoli bebte, erschlug der gerade erst renovierte Kirchturm den Schlagzeuger Andrea, seine Frau und die beiden kleinen Söhne im Schlaf. „Wir dachten, es ist besser zu warten“, sagt Elisa. Sie spielt Klarinette und fing schon als Zehnjährige in der Blaskapelle an. Heute ist sie 18 Jahre alt. An jenem Abend, nur zwei Wochen nach der Apokalypse, als es um Tod, um Pietät und um die Frage

ging, wie viel Leben und Neuanfang möglich sind, befand sich auch Giuseppe Scurci im Zelt. Der Psychologe und seine Kollegen waren am Tag nach der Katastrophe aus Rom nach Accumoli gekommen, um zu helfen. Als er mitbekam, dass Elisa und ihre Musikerkollegen unsicher waren, ob an diesem letzten Abend im Großraumzelt musiziert werden sollte oder nicht, da mischte er sich ein. „Musizieren kann helfen, euch und den anderen“, versicherte er ihnen. Eine Blaskapelle als Symbol des Lebens Die Musiker dachten nach und diskutierten. Als die Menschen im Zelt dann auch noch zu drängeln begannen, dass ein bisschen Spaß vielleicht allen ganz gut tun würde, holten Elisa und die anderen Musiker der Blaskapelle ihre Instrumente hervor. Sie improvisierten, es klang zunächst ein bisschen schräg, aber dann tanzten die Leute sogar. „Das war auch für uns das Zeichen: Es ist nicht vorbei“, erzählt Elisa. „Eine Blaskapelle, die spielt, ist ein Symbol für ein Dorf, das lebt“,…